Das doppelte Leiden der Antje Vollmer

Seite 2: Zum Tod von Antje Vollmer: Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

In den Monaten vor Ihrem Tod musste Antje Vollmer doppeltes Leid ertragen. Da war zum einen ihre schwere Erkrankung, an deren Folgen sie am Mittwoch, wenige Monate vor ihrem 80. Geburtstag, verstorben ist. Immer wieder musste sie stationär behandelt werden, das Reden fiel ihr zuletzt schwer, die Zunge schmerzte. Dennoch redete sie und schrieb, wo und wann sie nur konnte. Sie tat dies, um gegen ihr zweites Leid anzukämpfen: die Grünen.

Wenn Antje Vollmer auf die Entwicklung ihrer Partei zu sprechen kam, wurde ihre Stimme leiser, man konnte meinen, es schwinge Trauer mit. Hörbar war aber auch Empörung über die Abkehr ihrer Partei von den friedenspolitischen Zielen, die lange ein Kern der Grünen-Programmatik waren. Bis Joseph Fischer und der Jugoslawien-Krieg kamen. Dann Afghanistan. Und zuletzt der Ukraine-Krieg.

Antje Vollmer litt unter der Abkehr der Grünen-Führung vom Pazifismus zugunsten transatlantischer Kooperation und Nato-Orientierung. Ihrer Krankheit bewusst schrieb sie gegen diesen Umbau der Partei an und arbeitet so an ihrem politischen Vermächtnis.

Als ich sie im vergangenen November zuletzt für Telepolis interviewte, musste ich den Fragenkatalog ändern. "Bitte nichts zum Parteitag", sagte sie: "Für mich ist es an der Zeit, noch einmal grundsätzlicher Stellung zu nehmen." Damit war klar: Es sollte ein Abschiedsgespräch werden. Alles zuvor Besprochene, etwa ihr mögliches Engagement in einem künftigen Redaktionsbeirat von Telepolis, war damit vom Tisch. Wir konzentrierten uns auf zentrale Themen. Sie schrieb: "Thinktanks, Gorbatschow, europäische Friedensordnung."

"Es gibt keine inhaltliche Debatte über die jetzt brennende Frage: Wie kommen wir denn zum Frieden hin?", sagte sie, und:

Das Wort Verantwortung wird inflationär gebraucht als Ausdruck pathetischer Selbstvergewisserung. Führende Grüne bezeichnen sich und die Partei als staatstragend. Aber wo tragen Sie diesen Staat hin? In Richtung einer Führungsrolle in Europa? In Richtung zukünftiger Wirtschaftskriege? In Richtung neuer Aufrüstungsspiralen? Oder wollen wir vor allem Weltmeister der Moral werden?

Niemand hat bislang die Frage zufriedenstellend beantwortet, wie wir in diesem Europa, das in so einen desaströsen Zustand geratenen ist, wieder zu einer stabilen Friedensordnung kommen. Offenbar soll darüber erst nach dem Sieg über den verhassten Putin nachgedacht werden.

Antje Vollmer

Wir sprachen eine gute halbe Stunde. Zum Schluss des Gesprächs fiel ihr das Reden wieder schwer. Die Pausen wurden länger. Sie entschuldigte sich mehrfach dafür. Doch es gab Dinge, die sie noch erwähnt wissen wollte: "Ich glaube, dass Deutschland seine Chancen einer vermittelnden Position im Augenblick weitgehend verspielt hat. Ich habe aber eine große Hoffnung, dass aus diesem Desaster doch so etwas wie eine neue Blockfreien-Bewegung entsteht."

Antje Vollmer wurde nie laut oder erkennbar wütend. An einer Stelle unseres Gesprächs änderte sich das – als wir über den Tod Michail Gorbatschows sprachen. Wir seien, stellte sie mit Blick auf Russland fest, in eine Situation geraten, in der Putin das Tor zum Westen auf lange Zeit zugeschlagen habe. Aber auch der Westen habe Russland dauerhaft ausgeschlossen und sich schon lange eine andere Weltordnung überlegt.

Auf beschämende Weise konnte man das praktisch erleben, als sich – mit Ausnahme ausgerechnet von Viktor Orbán – kein einziger westlicher Politiker bereitfand, zur Beerdigung Michail Gorbatschows nach Moskau zu fahren. Selbst Deutschland, das ihm nahezu alles zu verdanken hatte, schickte weder Präsident noch Kanzler, Minister, Botschafter, Parlamentarier, sondern nur einen besseren Hausmeister mit bescheidenem Kranz.

Antje Vollmer

Antje Vollmer empörte dieses Verhalten zutiefst, diese Abkehr vom Menschlichen, wie sie sagte. Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich Vertreter von Staat und grüner Partei zu ihrer Beerdigung verhalten. Der Widerspruch ist ja offensichtlich.

Bundestagsvizepräsidentin und Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt erinnerte heute an die Errungenschaften Vollmers. "Sie war von Beginn an dabei und hat Vieles von dem durchgekämpft, wovon wir heute profitieren", schrieb Göring-Eckardt auf Twitter. "Und sie hat ihren eigenen Kopf behalten, unbeugsam! Danke, Antje." Zu Lebzeiten Vollmers war der Ton, wie sie berichtete, deutlich kühler.

Vollmer war ab 1983 Mitglied der ersten Parlamentsfraktion der Grünen. Von 1994 bis 2002 war sie Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Vollmer leitet den Runden Tisch Heimerziehung in den 1950er und 1960er-Jahren, der 2009 von der Bundesregierung auf Empfehlung des Bundestages eingerichtet wurde.

In den folgenden Monaten war er für die Aufarbeitung der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Heimen der Bundesrepublik der Nachkriegszeit verantwortlich. Nach vielen Diskussionen gelang es ihr, einen Fonds zur Unterstützung der Opfer einzurichten.

Im April vergangenen Jahres gehörte Vollmer zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes, der im Emma-Magazin veröffentlicht wurde. Dort wurde Bundeskanzler Olaf Schulz (SPD) aufgefordert, Waffenlieferungen in die Ukraine nach dem russischen Angriff zu stoppen, die Kiewer Regierung forderte er auf, Friedensgespräche aufzunehmen. Im Februar dieses Jahres unterzeichnete sie das "Manifest für Frieden", das von den Linken-Abgeordneten Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer initiiert worden war.

Sie ließ sich auch durch aggressive Kritik nicht beirren. "Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens", stellte sie im Telepolis-Gespräch fest: "Die aber heißt: Wir fangen an, unsere gegenseitigen Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen. Wir akzeptieren unsere Unterschiede. Wir regeln mit Verhandlungen, was wir zu regeln vermögen." Den Rest müsse eine höhere Macht oder die zukünftige Generation bewältigen.

"Hoffen wir auf ein wenig Resonanz", schrieb Antje Vollmer nach unserem letzten Telefonat: "Und wichtiger: Grüßen Sie Ihre Kinder."

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