Richter warnt: Meinungsfreiheit in der EU in akuter Gefahr

Eine neue EU-Regel bedroht die Grundrechte:  Meinungen, die der Regierung unangenehm sind, können „rechtswidrig“ sein – mit unabsehbaren Folgen für Kritiker. Ein Gastbeitrag.

Das Digitale-Dienste-Gesetz und der Digital Services Act geben der EU-Kommission einen Freibrief für die Kontrolle des öffentlichen Diskurses. 
Das Digitale-Dienste-Gesetz und der Digital Services Act geben der EU-Kommission einen Freibrief für die Kontrolle des öffentlichen Diskurses. Maskot/imago

Der Digital Services Act (DSA) tritt am 17. Februar 2024 in vollem Umfang in Deutschland in Kraft. An der öffentlichen Wahrnehmung vorbei soll vorher noch durch den Bundestag das den DSA konkretisierende Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) beschlossen werden. Das Gesetz aber ist ein Trojanisches Pferd: Es trägt eine Fassade zur Schau, die demokratischen Grundsätze zu achten. So verkündet die Europäische Kommission, mit dem DSA sollen „strenge Regeln zur Wahrung europäischer Werte“ festgeschrieben werden. Direkt bestimmt Artikel 1 des DSA: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung“. Hinter dieser rechtsstaatlichen Fassade geschieht jedoch das genaue Gegenteil: Es ereignet sich ein Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung, der weitgehend unbemerkt bleibt – wahrscheinlich aufgrund der hohen Komplexität der Materie. Hinzu kommt, dass dieser Angriff mit dem DSA „schleichend“ geschieht.

Der DSA eröffnet die Möglichkeit, auch nicht rechtswidrige Eintragungen auf sehr großen Onlineplattformen ab 45 Millionen Nutzern als löschungspflichtig zu erklären. In den zur Auslegung des DSA heranzuziehenden Erwägungsgründen wird säuberlich zwischen der Verbreitung rechtswidriger und „anderweitig schädlicher Informationen“ unterschieden. Den Plattformbetreibern wird aufgegeben „besonders darauf (zu) achten, wie ihre Dienste zur Verbreitung oder Verstärkung nur irreführender oder täuschender Inhalte einschließlich Desinformationen genutzt werden“ könnten. Auch Artikel 34 DSA unterscheidet genau zwischen rechtswidrigen Informationen und solchen mit nur „nachteiligen Auswirkungen“.

Guten Morgen, Berlin Newsletter
Vielen Dank für Ihre Anmeldung.
Sie erhalten eine Bestätigung per E-Mail.

Bei einer Einstufung als rechtswidrig drohen soziale Konsequenzen

Der Begriff „Desinformation“ ist aber in dem DSA nicht definiert. Die Kommission hat jedoch schon 2018 klargestellt, dass Desinformationen unter anderen solche sind, die „öffentlichen Schaden“ anrichten können. Dabei bestimmt sie, unter öffentlichem Schaden seien „Bedrohungen für die demokratischen politischen Prozesse und die politische Entscheidungsfindung sowie für öffentliche Güter wie den Schutz der Gesundheit … der Umwelt und der Sicherheit zu verstehen“. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass falsche, irreführende oder gar unbequeme Eintragungen nicht rechtswidrig sein müssen. Dennoch können sie auf der Grundlage des DSA jederzeit als rechtswidrig erklärt werden. Das Maß, an dem die Beurteilung als Desinformation ausgerichtet ist, wird von der Europäischen Kommission gesetzt – das aber heißt, dass politisch unliebsame Meinungen, ja wissenschaftlich argumentierte Positionen gelöscht werden können, und nicht nur das: Bei einer Einstufung als rechtswidrig drohen soziale Konsequenzen.

In der Konsequenz bedeutet dies für den Bürger, dass er sich selbst innerer Vorzensur unterwirft: Er wird dazu gedrängt, seine Mitteilungen an die Plattformen an dem auszurichten, was in den aktuellen politischen Meinungskorridor passt. Er wird das Risiko immanenter sozialer Nachteile nicht eingehen. Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung – die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen – wird deshalb verkümmern. Betreutes Denken wird eingepflanzt. Mit den in dem DSA äußerst vage formulierten Generalklauseln wird auf diese Weise eine indirekte Zensur ausgeübt.

Dr. Manfred Kölsch war 40 Jahre lang Richter.
Dr. Manfred Kölsch war 40 Jahre lang Richter.YouTube

Die Herrschaft des Verdachts wird ausgedehnt

Hinzu kommt die praktisch ausgeübte Zensur: Die großen Plattformen haben Eintragungen auf darin enthaltene „systemische Risiken“ zu analysieren, diese entsprechend zu bewerten, um dann „Risikominderungsmaßnahmen“ zu ergreifen. Systemische Risiken liegen dann vor, wenn „voraussichtlich (oder absehbar) nachteilige Auswirkungen“ auf „die gesellschaftliche Debatte“, die „öffentliche Sicherheit“ oder die „öffentliche Gesundheit“ zu erwarten sind. Die Eintragungen sind zu löschen beziehungsweise zu sperren.

Diesen Kriterien fehlt jedoch, auch unter Berücksichtigung eines dem Gesetzgeber zuzubilligenden Ermessensspielraums, die von dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot geforderte inhaltliche Begrenzung. Eine gesetzliche Ermächtigung an die Exekutive muss nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sein. Nur dadurch wird das Handeln der Ermächtigten messbar und in erträglichem Ausmaß für den Bürger voraussehbar und berechenbar. Die Herrschaft des Verdachts wird jetzt nach dem Ausklingen der Corona-Zeit auf alle möglichen Felder des öffentlichen Lebens ausgedehnt.

Unberechtigten Löschungen wird zusätzlich Vorschub geleistet

Den betroffenen Plattformen steht wegen der im DSA verwendeten Generalklauseln jederzeit ein Grund zur Löschung zur Verfügung, dem Koordinator eine Möglichkeit, Sanktionen anzuordnen, und die Hinweisgeber haben unbeschränkte Möglichkeiten, Anzeigen zur Löschung vorzubringen.

Unberechtigten Löschungen wird zusätzlich Vorschub geleistet durch den angesichts der Informationsflut unvermeidlichen Einsatz automatischer Inhaltserkennungstechnologien. Der EuGH hat in einer neuen Entscheidung entschieden, dass diese, bei einigen Plattformen schon zu 90 Prozent angewandten Techniken nicht in der Lage sind, die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Verhaltens vorauszusagen. Auch der Generalanwalt beim EuGH hat dargelegt, weshalb die zur Verfügung stehenden Techniken nicht in der Lage sind, die vom DSA geforderten wertenden Entscheidungen vorzunehmen, ob zum Beispiel ein Eintrag absehbar nachteilige, eine Löschung rechtfertigende Auswirkung auf die „öffentliche Debatte“ oder die „öffentliche Gesundheit“ haben wird.

Nicht einvernehmlich weitergegebene illegale Inhalte sollen sofort aus dem Verkehr gezogen werden.
Nicht einvernehmlich weitergegebene illegale Inhalte sollen sofort aus dem Verkehr gezogen werden.Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Die Überwachungsverpflichtung aller Akteure ist präventiv angelegt

Sogenanntes Overblocking werden die Plattformen wegen der für Zuwiderhandlungen angedrohten Geldbußen und Zwangsgelder in der Spitze bis zu 6 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes im vorangegangenen Jahr – rein aus wirtschaftlichen Erwägungen – praktizieren.

Im Ergebnis wird der Nutzer der Plattformen sich stets als möglichen Störer der öffentlichen Debatte und Wahlprozesse und Gefährder der öffentlichen Sicherheit und öffentlichen Gesundheit sehen. Diese Unschärfemethode wird bei ihm die Befürchtung aufleben lassen, ins Visier der Kontrolleure zu geraten. Die die Demokratie tragenden öffentlichen Debatten werden zu Scheindebatten im vorgegebenen Meinungskanal degenerieren.

Die Überwachungsverpflichtung aller Akteure ist präventiv angelegt. Es geht immer um „voraussichtlich kritische“, „voraussehbar nachteilige“ oder „absehbar nachteilige Auswirkungen“ auf die „gesellschaftliche Debatte“, die „öffentliche Sicherheit“ oder die „öffentliche Gesundheit“. Der Generalanwalt beim EuGH hat dazu das rechtlich Notwendige gesagt: Hier handele es sich um „besonders gravierende Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung“, „weil sie durch die Einschränkung bestimmter Informationen schon vor deren Verbreitung jede öffentliche Debatte über den Inhalt verhindern und damit die Meinungsfreiheit ihrer eigentlichen Funktion als Motor des Pluralismus berauben“. Der Generalanwalt weist zutreffend darauf hin, dass vorbeugende Informationskontrollen im Ergebnis das Recht auf die prinzipiell unbeschränkte Meinungs- und Informationsfreiheit aufheben. Dieses Recht wird jetzt mit dem DSA obrigkeitlich gewährt.

Meinungs- und Informationsfreiheit

Um, wie es der DSA vorgibt, aus den milliardenfachen ununterbrochenen Kommunikationsvorgängen deren zukünftiges Risikopotenzial, zum Beispiel für die „gesellschaftliche Debatte“, in den 27 EU-Staaten bewerten zu können, ist zumindest ein ungeheures Maß an Koordination erforderlich. Es wird deshalb eine europaweite Kommunikationsüberwachungsbürokratie installiert. Nach dem DSA soll es ein „zuverlässiges und sicheres“, einen „nahtlosen“ Informationsaustausch in Echtzeit zwischen den Akteuren des Netzwerks ermöglichen. An der Spitze steht die Europäische Kommission, die sämtliche von ihr als wesentlich angesehenen Entscheidungen an sich ziehen kann. Die übrigen Beteiligten sind das „Gremium“, der nationale „Koordinator für digitale Dienste“ und die von Letzterem zertifizierten zivilgesellschaftlichen „Hinweisgeber“.

Eingebunden in dieses Überwachungssystem sind natürlich auch die digitalen Plattformen. Diese Überwachungsbürokratie widerspricht dem grundgesetzlich verankerten Föderalismus. Bisher war die Medienaufsicht Ländersache. Die Hinweisgeber sind nach dem DSA als „vertrauenswürdig“ anzusehen, wenn sie sich in der Vergangenheit bereits bei der Erkennung beanstandenswürdiger Inhalte bewährt haben. Im Klartext heißt dies: Die bisher bereits bekannten Denunzianten unter dem Regime des bisher geltenden Netzwerkdurchsetzungsgesetzes werden dankbar erkennen, das ihre Stellung jetzt Monopolcharakter gewonnen hat.

Ein aufmerksamer Blick hinter die Fassade der Rechtsstaatlichkeit offenbart, dass durch den DSA wissentlich das von Artikel 11 EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 5 Grundgesetz garantierte Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehöhlt wird.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de