Wo das Gesicht verschwindet, werden auch die Toten aus dem Leben verbannt: Gedanken zur unmenschlichen Gegenwart

Das Gesicht der Menschen ist der Ort ihrer Wahrheit. Wird es verhüllt, dankt die Politik ebenso ab wie die Freiheit.

Giorgio Agamben 23 Kommentare
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Ohne Gesicht verschwimmt das Gegenüber: Mann mit Maske und Kapuze in Zürich.

Ohne Gesicht verschwimmt das Gegenüber: Mann mit Maske und Kapuze in Zürich.

Simon Tanner / NZZ

Offenbar sind in der neuen Ordnung des Planeten, die sich gerade abzeichnet, zwei Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, zum völligen Verschwinden bestimmt: das Gesicht und der Tod. Wir wollen untersuchen, ob sie nicht irgendwie miteinander verbunden sind und was ihr Verschwinden bedeutet.

Das eigene Gesicht und das Gesicht der anderen zu erblicken, ist für den Menschen eine entscheidende, durchaus riskante Erfahrung – das wussten schon die Alten: «Was ‹Gesicht› heisst», schreibt Cicero, «kann bei keinem Lebewesen ausser beim Menschen existieren.» Und die Griechen bezeichneten den Sklaven, der nicht Herr seiner selbst ist, als aprosopon, wörtlich: «gesichtslos».

Ohne Gesicht keine Politik

Gewiss, alle Lebewesen zeigen sich und kommunizieren miteinander, doch nur der Mensch macht das Gesicht zum Ort, an dem er in seiner Wahrheit erkannt wird. Der Mensch ist das Lebewesen, das sein Gesicht im Spiegel erkennt und sich im Gesicht des anderen spiegelt und wiedererkennt. In diesem Sinne ist das Gesicht sowohl similitas, Ähnlichkeit, als auch simultas, Zusammensein der Menschen. Ein Mensch ohne Gesicht ist zwangsläufig allein, seiner Freiheit beraubt.

Daher ist das Gesicht der Ort der Politik. Wenn die Menschen einander immer und ausschliesslich Informationen mitzuteilen hätten, immer dieses oder jenes, gäbe es nie Politik im eigentlichen Sinne, sondern nur den Austausch von Nachrichten. Da die Menschen jedoch vorrangig ihre Offenheit mitzuteilen haben, ihre Weise, einander in einem Gesicht zu erkennen, ist das Gesicht die eigentliche Bedingung der Politik. Darauf beruht alles, was Menschen einander sagen und miteinander austauschen.

Das Gesicht ist in diesem Sinne die wahre Stadt der Menschen, das politische Element schlechthin. Von Angesicht zu Angesicht erkennen sich die Menschen und begeistern sich füreinander, nehmen Ähnlichkeit und Verschiedenheit, Distanz und Nähe wahr. Unter Tieren gibt es keine Politik, weil die Tiere immer schon im Offenen sind; sie haben kein Problem damit, sich auszusetzen, und bleiben einfach unbesorgt in diesem Zustand. Deshalb interessieren sie sich auch nicht für Spiegel, für das Bild als Bild. Der Mensch hingegen will sich selbst erkennen und erkannt werden, er will sich sein eigenes Bild aneignen, er sucht darin seine eigene Wahrheit. Auf diese Weise verwandelt er die Umwelt, wie sie im Tierreich besteht, in eine Welt, in das Feld unaufhörlicher politischer Dialektik.

Wenn ein Land beschliesst, auf das eigene Gesicht zu verzichten, die Gesichter seiner Bürger überall mit Masken zu bedecken, hat dieses Land also jede politische Dimension aus sich getilgt. In diesem leeren Raum, jederzeit einer unbegrenzten Kontrolle unterworfen, bewegen sich nun voneinander isolierte Individuen, die das unmittelbare, wahrnehmbare Fundament ihrer Gemeinschaft verloren haben und nur noch Nachrichten austauschen können, gerichtet an einen gesichtslosen Namen.

Und da der Mensch ein politisches Lebewesen ist, bedeutet das Verschwinden der Politik auch die Beseitigung des Lebens: Ein Kind, das bei der Geburt nicht mehr das Gesicht der eigenen Mutter sieht, läuft Gefahr, keine menschlichen Gefühle mehr empfinden zu können.

Ohne Gesicht kein Totenkult

Nicht weniger bedeutsam als die Beziehung zum Gesicht ist die Beziehung zu den Toten. Der Mensch als Lebewesen, das sich in seinem eigenen Gesicht erkennt, ist auch das einzige Lebewesen, das die Toten kultisch ehrt. So wundert es nicht, wenn auch die Toten ein Gesicht haben und die Auslöschung des Gesichts mit der Beseitigung des Todes einhergeht.

In Rom nimmt der Tote an der Welt der Lebenden teil durch seine imago, ein auf Wachs geformtes und gemaltes Bild, das jede Familie im Eingangsbereich des eigenen Hauses aufbewahrte. Der freie Mann definiert sich also durch seine Teilnahme am politischen Leben der Stadt wie auch durch sein ius imaginum, das unveräusserliche Recht, das Gesicht seiner Vorfahren zu bewahren und es bei gemeinschaftlichen Festen öffentlich zur Schau zu stellen. «Nach den Begräbnis- und Beerdigungsriten», schreibt Polybius, «wurde die imago des Toten am sichtbarsten Punkt des Hauses in einem Holzschrein aufgestellt, und dieses Bild ist ein Gesicht aus Wachs, angefertigt nach dem genauen Abbild in Form und Farbe.»

Diese Bilder waren nicht nur Gegenstand der privaten Erinnerung, sondern als integraler Bestandteil des Lebens der Stadt das greifbare Zeichen der Verbundenheit und Solidarität zwischen Lebenden und Toten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dadurch spielten sie eine derart wichtige Rolle im öffentlichen Leben. Man könnte geradezu sagen: Das Recht auf Bilder der Toten ist das Experimentierfeld, in dem das Recht der Lebenden gründet.

Weil dies wahr ist, verloren diejenigen, die sich eines schweren öffentlichen Verbrechens schuldig gemacht hatten, ihr Recht auf das Bild. Und nach der Legende liess Romulus, als er Rom gründete, eine Grube ausheben – mundus, «Welt» genannt –, in die er und jeder seiner Gefährten eine Handvoll der Erde warfen, von der sie stammten. Diese Grube wurde dreimal pro Jahr geöffnet, und es hiess: An diesen Tagen kommen die mani, die Toten, in die Stadt und nehmen am Dasein der Lebenden teil. Die Welt ist nichts als die Schwelle, über die Lebende und Tote, Vergangenheit und Gegenwart kommunizieren.

Ohne Gesicht keine gemeinsame Welt

So versteht man, warum eine Welt ohne Gesichter nur eine Welt ohne die Toten sein kann. Wenn die Lebenden ihr Gesicht verlieren, werden die Toten zu blossen Nummern. Insofern sie auf ihr rein biologisches Leben reduziert wurden, müssen sie allein und ohne Begräbnis sterben. Und wenn das Gesicht der Ort ist, an dem wir vor aller Sprache mit unseren Mitmenschen im Gespräch sind, dann sind auch die Lebenden unrettbar allein, wenn sie ihrer Beziehung zum Gesicht beraubt sind, wie sehr sie sich auch mühen, mit digitalen Geräten zu kommunizieren.

Das Projekt, das die Regierungen auf dem ganzen Planeten verhängen wollen, ist daher radikal unpolitisch. Ja, es sieht sogar vor, jedes genuin politische Element – jedes Risiko – aus der menschlichen Existenz zu eliminieren, um es durch eine Regierungsmaschine zu ersetzen, die allein auf algorithmischer Kontrolle beruht.

Die Auslöschung des Gesichts, die Beseitigung der Toten und die soziale Distanzierung sind die wesentlichen Mittel dieser Regierungsmaschine, die nach übereinstimmenden Erklärungen der Machthaber auch dann beibehalten werden muss, wenn der sanitäre Terror gelockert wird.

Eine Gesellschaft ohne Gesicht, ohne Vergangenheit und ohne physischen Kontakt ist eine unfreie Gesellschaft von Gespenstern. Es ist eine Gesellschaft, die als solche mehr oder weniger schnell dem Untergang geweiht ist.

Giorgio Agamben ist Philosoph. Zuletzt sind von ihm die Werke «An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik» (Turia + Kant, 2021) und «Der Gebrauch der Körper» (Fischer-Verlag, 2020) erschienen. – Der obenstehende Beitrag wurde von Barbara Hallensleben aus dem Italienischen übersetzt.

23 Kommentare
C. B.

"Eine Gesellschaft ohne Gesicht, ohne Vergangenheit und ohne physischen Kontakt ist eine unfreie Gesellschaft von Gespenstern. Es ist eine Gesellschaft, die als solche mehr oder weniger schnell dem Untergang geweiht ist." Schicken Sie diese Zeilen doch bitte an alle frauenverachtenden Herrscher dieser Welt, die Frauen permanent ihre Gesichter stehlen: Saudi-Arabien, Afghanistan, Iran usw, aber auch die westlichen Linken/ Grünen, die beim Gesichtsstehlen von Frauen mitmachen.

Daniel Heierli

Von Tieren scheint Giorgio Agamben nicht allzu viel zu wissen. Selbstverständlich gibt es Tiere, die über den Gesichtsausdruck kommunizieren und sogar menschliche Gesichtsausdrücke deuten können. Im übrigen aber trifft es sicher zu, dass in einer Gesellschaft sehr viel verloren geht, wenn die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht verunmöglicht wird. Die Auswirkungen davon treten allerdings nicht so plötzlich und offensichtlich auf, deshalb lassen sie sich trefflich ignorieren. Eine Weiterführung von Maskenvorschriften nach dem Motte "nützts nüüt, so schadts nüüt" oder "die Chinesen machen das ja auch bei jedem Pfnüsel" ist jedenfalls strikt abzulehnen.