Die USA drängen Kanada, eine prominente Chinesin zu verhaften. China rächt sich. Ein Geiseldrama

Die USA drängen Kanada, eine prominente Chinesin zu verhaften. China rächt sich. Ein Geiseldrama

Vor zwei Jahren geriet Kanada zwischen die Fronten der amerikanisch-chinesischen Rivalität. Seither setzt China Kanada unter Druck. Wie befreit sich Kanada aus diesem Dilemma?

Natalie Wenger, Katrin Büchenbacher (Text), Eugen U. Fleckenstein (Illustration)
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Der Cathay-Pacific-Flug CX838 aus Hongkong landet am 1. Dezember 2018 um 11.13 Uhr am Flughafen von Vancouver. Das ist 17 Minuten zu früh. Meng Wanzhou steigt als eine der ersten Personen aus – ein Vorteil von Passagieren der Businessclass. Meng Wanzhou ist die Finanzchefin von Huawei, dem grössten Telekomausrüster der Welt. Die 46-jährige Chinesin trägt dunkle Hosen, weisse Turnschuhe, ein weisses Shirt. Lockere Reisekleidung, denn Meng will nur umsteigen und nach Mexiko weiterfliegen.

Doch nachdem sie ihren Pass den Grenzpolizisten überreicht hat, wird sie in einen anderen Raum geführt. Sie muss ihre zwei Mobiltelefone, ihr Tablet und ihren Laptop abgeben. Beamte durchsuchen ihr Gepäck. Als sie auf die Toilette geht, begleitet sie eine weibliche Beamtin. «Wie lange dauert das noch?», fragt sie nach einer Weile. So notiert es ein Beamter später. Meng erfährt erst nach drei Stunden, dass die Vereinigten Staaten ihre Auslieferung fordern. Der Vorwurf: Betrug. Im August 2013 soll sie die Bank HSBC über die Kontrolle von Huawei über eine Tochtergesellschaft getäuscht haben. Jene Tochtergesellschaft wird beschuldigt, gegen Sanktionen der USA gegen Iran verstossen zu haben. Ein kanadischer Polizist legt Meng Handschellen an.

Noch ist der Name Meng Wanzhou den wenigsten Menschen ausserhalb Chinas geläufig. Noch weiss niemand, dass ihre Verhaftung Kanada in die tiefste aussenpolitische Krise seit dem Zweiten Weltkrieg stürzen wird.

An diesem Dezembermorgen wird Kanada zum Schauplatz von einem der wichtigsten geopolitischen Konflikte unserer Zeit: dem Kampf um die technologische Vormachtstellung zwischen China und den USA. Kanada gerät zwischen die Fronten und steht vor der Frage: Wie kann ein einzelnes Land seine Interessen und Werte gegenüber einem immer aggressiver auftretenden China durchsetzen?

Der letzte freie Tag von Michael Kovrig

Aus chinesischer Sicht ist die Lage klar: Die Verhaftung Mengs ist ein politisch motivierter Stunt eines Handlangers der USA. Peking droht Kanada mehrfach mit Konsequenzen, falls Meng nicht unverzüglich freigelassen werde. Der kanadische Botschafter in China, John Mc Callum, muss beim Aussenministerium antraben. Als die Standpauke nicht wirkt, fährt China gröberes Geschütz auf.

Michael Kovrig ist nach Peking gereist, um hochrangige Offizielle zu treffen. Stattdessen wird er vor seiner Bleibe festgenommen und an einen unbekannten Ort abgeführt.

Michael Kovrig ist nach Peking gereist, um hochrangige Offizielle zu treffen. Stattdessen wird er vor seiner Bleibe festgenommen und an einen unbekannten Ort abgeführt.

Der 10. Dezember 2018 ist Michael Kovrigs letzter Tag in Freiheit. Der ehemalige kanadische Diplomat ist als Ostasien-Berater der NGO International Crisis Group in China, um hochrangige Offizielle zu treffen. Die Vormachtstellung des Tech-Konzerns Huawei und die Verhaftung von Meng Wanzhou beschäftigen den 46-jährigen Kovrig. Auf Twitter äussert er sich mehrmals dazu. Am Tag vor seiner Verhaftung teilt er einen Artikel der «Washington Post». Die im Text zitierte Meinung eines republikanischen Abgeordneten, wonach China mit Betrug die Weltherrschaft zu erreichen versuche, werde von immer mehr Leuten geteilt, twittert Kovrig. Es ist sein letzter Tweet.

Chinesische Sicherheitskräfte fangen Kovrig gegen 10 Uhr abends vor seiner Unterkunft in Peking ab. Es ist eine eisige Nacht. Die Beamten führen ihn ab. Kovrig weiss zu dem Zeitpunkt nicht, was ihm vorgeworfen wird und dass er auf unbestimmte Zeit kein Tageslicht mehr sehen wird. Die Polizisten bringen ihn in eine Einrichtung, die vom Ministerium für Staatssicherheit betrieben wird. So erzählt es Kovrigs Frau Vina Nadjibulla am Telefon – doch Details der Verhaftung kennt sie nicht. Die chinesischen Behörden weigern sich, die Polizeiberichte herauszugeben.

Die chinesische Regierung informiert Kanada am 11. Dezember darüber, dass Michael Kovrig verhaftet wurde. Sie werfen ihm vor, die nationale Sicherheit gefährdet zu haben. Einen Tag später verkündet China, einen weiteren Kanadier festgenommen zu haben. Der Unternehmer und Nordkorea-Spezialist Michael Spavor wurde von den Sicherheitsbehörden abgefangen, kurz bevor er nach Seoul fliegen wollte. Der Vorwurf ist der gleiche: Gefährdung der nationalen Sicherheit.

Die kanadischen Medien sprechen fortan von den «zwei Michaels». Sechs Monate werden die beiden in Einzelhaft verbringen. Sie sitzen in engen Zellen, ein Bett gibt es nicht. Das Licht brennt 24 Stunden am Tag. Bis zu acht Stunden am Tag müssen sie Fragen der Sicherheitsbehörden beantworten. Einmal im Monat dürfen sie 30 Minuten lang mit einem diplomatischen Vertreter Kanadas sprechen. Erst nach einem Jahr erhalten sie kurzzeitig Zugang zu Anwälten, wie die kanadische Zeitung «The Globe and Mail» berichtet. Dann wird die Pandemie sie von jeglichem Aussenzugang abschneiden.

Wie China andere Länder zu einer Verhaltensänderung zwingt

Für Experten ist klar: Die Verhaftung der beiden Kanadier ist die chinesische Retourkutsche für die Inhaftierung Mengs – Geiseldiplomatie. Das Australian Strategic Policy Institute (ASPI) spricht von «coercive diplomacy», «Diplomatie durch Zwangsmassnahmen». Dazu gehören auch Drohungen, wirtschaftliche Sanktionen, Reisebeschränkungen. Damit versucht China, andere Länder zu einer Verhaltensänderung zu zwingen.

In einer neuen Studie kommen Autoren des ASPI zum Schluss, dass die Kommunistische Partei Chinas diese Taktik in den vergangenen zehn Jahren insgesamt hundertmal gegen 27 Länder sowie die EU angewendet habe. Seit 2018 steige die Frequenz stark an. Häufig sind die Zwangsmassnahmen erfolgreich: So musste etwa Norwegen klein beigeben. Das Land war von Peking dafür bestraft worden, dass das Nobelpreiskomitee – das von der Regierung unabhängig entscheidet – dem chinesischen Schriftsteller und Systemkritiker Liu Xiaobo 2010 den Nobelpreis verliehen hatte.

Nun versucht China mit ähnlichen Methoden, Kanada zur Freilassung Mengs zu zwingen. Denn Meng ist nicht irgendeine Chinesin. Ihr Vater ist der Gründer von Huawei und Milliardär Ren Zhengfei. Huawei-Mitarbeitende nennen Meng seit ihrer Verhaftung manchmal etwas spöttisch Gongzhu, die Prinzessin. Huawei ist das grösste Privatunternehmen Chinas, eines der ersten mit weltweitem Erfolg. Andy Mok, Analytiker für Technologie und Geopolitik am Center for China and Globalization in Peking, sagt am Telefon: «In China ist Huawei ein nationaler Champion. Die Firma steht für die Zukunft Chinas.»

In Kanada steht die Zukunft Chinas vor Gericht

2018 eskaliert der Handelskonflikt zwischen den USA und China. Die Kampagne gegen Huawei steht im Zentrum des Technologie-Wettstreits. Gegen die Finanzchefin von Huawei persönlich vorzugehen statt gegen die Firma, sei ungewöhnlich und zeuge davon, dass die USA «strategisch einen Rivalen lähmen» wollten, sagt Mok.

Durch die Verhaftung Mengs droht Kanada zwischen den beiden Grossmächten aufgerieben zu werden. «Kanada wird für sein schlechtes Verhalten bezahlen», kommentierte die nationalistische chinesische Zeitung «Global Times» am 12. Dezember 2018. An diesem Tag hat Meng eigentlich Grund zum Feiern.

Meng Wanzhou lebt in Vancouver in ihrer Villa in einer lockeren Form von Hausarrest. Sie darf sich unter Begleitschutz in British Columbia bewegen, ihre Familie darf bei ihr sein.

Meng Wanzhou lebt in Vancouver in ihrer Villa in einer lockeren Form von Hausarrest. Sie darf sich unter Begleitschutz in British Columbia bewegen, ihre Familie darf bei ihr sein.

Das Gericht in Vancouver entscheidet am 12. Dezember 2018, ob Meng auf Kaution freikommt. Sie sieht dünn aus in dem grünen Trainer des Frauengefängnisses in Vancouver, wie sich der Reporter vom kanadischen Fernsehsender CBC Jason Proctor später erinnern wird. Immer wieder habe im Gerichtssaal ein Handy geklingelt. Meng kennt die Melodie des Klingeltons. Es ist die chinesische Nationalhymne.

Das Gericht entscheidet zugunsten Mengs. Als sie fünf Stunden später den Gerichtssaal durch eine Seitentüre verlässt – es ist bereits dunkel –, blitzt es von allen Seiten. Ihr Gesicht leuchtet, als sie kurz in die Kamera blickt, langsam dreht sie dem Trubel den Rücken, streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Kanada hat begriffen, wie berühmt, wie wichtig sie ist. Es sei, als ob Sheryl Sandberg, die Top-Managerin von Facebook, vor Gericht stünde, hatte ihr Anwalt erklärt. Reporter rufen ihr Fragen zu, doch Meng bleibt stumm.

Später am Abend teilt Meng ein Werbeplakat von Huawei auf ihrem privaten WeChat-Konto, der Post wird auf Weibo kopiert, das chinesische Twitter-Pendant, und erreicht dort 380 Millionen Personen. Das Foto zeigt den Fuss einer tanzenden Ballerina, dazu den Satz «Hinter Grösse steckt Leiden».

An Mengs Knöchel hängt fortan ein elektronischer GPS-Tracker. Kostenpunkt der Kaution: 10 Millionen kanadische Dollar, umgerechnet knapp 7 Millionen Schweizerfranken. Die Nächte muss sie in einer ihrer beiden Villas in Vancouver verbringen. Tagsüber darf sie sich frei bewegen, allerdings die Provinz British Columbia nicht verlassen. Meng kann regelmässig ihren Mann, ihre damals zehnjährige Tochter und ihre Mutter sehen. Sie darf Huawei-Manager und Freunde empfangen.

Am Tag, an dem Meng auf Kaution freikommt, äussert sich der amerikanische Präsident Trump zum Thema. Er würde in den Fall gegen die Huawei-Finanzchefin eingreifen, wenn dies helfen würde, mit China ein Handelsabkommen abzuschliessen, sagt Trump gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Trumps Bemerkung macht für China klar, dass Mengs Verhaftung politisch motiviert war. Dass sich Kanada zum Komplizen der USA gemacht hat. Neben den beiden Michaels nehmen die chinesischen Behörden laut der kanadischen Regierung vorübergehend 13 weitere Kanadier fest. Vier andere werden wegen Drogenhandels zum Tode verurteilt.

«Was Kanada passiert ist, könnte auch der Schweiz passieren»

Für den ehemaligen kanadischen Botschafter in China, Guy Saint-Jacques, ist das die grösste Krise in der 50-jährigen Geschichte der sino-kanadischen Beziehungen. Wirtschaftlich wie kulturell sind die beiden Länder eng verknüpft: China ist nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner Kanadas. 1,8 Millionen Chinesen leben in Kanada. 300 000 Kanadier leben in Hongkong.

Gleichzeitig übt China in Kanada grossen Einfluss aus. Schon 1999 kam ein Bericht der kanadischen Polizei und der Geheimdienste zum Schluss, dass chinesische Agenten, kriminelle Gangs und Wirtschaftsführer versuchten, kanadische Politiker zu beeinflussen, Technologie zu stehlen und Firmen aufzukaufen. 200 kanadische Geschäftsleute seien von China kontrolliert, mindestens zwei Kabinettsminister finanziell unterstützt worden, heisst es im Bericht. Die Anschuldigungen wurden nie genauer untersucht. Der damalige kanadische Premierminister Jean Chrétien habe die Beziehungen zu China nicht gefährden wollen, schreiben die Autoren Clive Hamilton und Mareike Ohlberg in ihrem Buch «Lautlose Eroberung».

Mit der Verhaftung Meng Wanzhous zerbricht die vormals enge Beziehung. Im März 2019 verbietet China den Import von kanadischem Raps, drei Monate später blockiert China alle Schweinefleischlieferungen aus Kanada. Die Schäden für die kanadische Landwirtschaft belaufen sich auf über eine Milliarde kanadische Dollar.

«Was Kanada passiert ist, könnte auch der Schweiz passieren», sagt Guy Saint-Jacques im Gespräch. In diplomatischen Kreisen der Schweiz teilt man diese Einschätzung. So müsse die Schweiz zum Beispiel vor jedem Besuch des Dalai Lama abwägen, ob China dies dulden würde, sagt eine Diplomatin der NZZ im Vertrauen. Chinas Schachzüge seien schwer vorherzusehen. Wenn Schweizer Diplomaten oder Politiker China in der Vergangenheit kritisierten – wie etwa als Ignazio Cassis im August Chinas Hongkong-Politik hinterfragte –, reagierte China sofort. «Die Statements werden als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen. Es wird argumentiert, dass China ein Rechtsstaat sei», sagt die Diplomatin. Meist würden diese Aussagen mit drohenden Zusätzen unterlegt, wie etwa, dass die Schweiz über hundert Firmen in Hongkong habe.

Nach eineinhalb Jahren Haft darf Michael Kovrig zum ersten und einzigen Mal mit seiner Familie telefonieren.

Nach eineinhalb Jahren Haft darf Michael Kovrig zum ersten und einzigen Mal mit seiner Familie telefonieren.

16 Minuten, 47 Sekunden. So lange kann Michael Kovrig am 12. März 2020 mit seiner Familie telefonieren. Es ist Tag 459 seiner Haft, der Anruf trifft ihn unvorbereitet. «V, bist du das?», fragt Kovrig, als er zum ersten Mal seit seiner Verhaftung die Stimme seiner Frau hört. Seit er Vina Nadjibulla in einer Volkswirtschaftsvorlesung der Columbia University in New York kennengelernt hat, ist sie seine engste Vertraute. Nadjibulla hat dafür gekämpft, dass Kovrig mit seinem kranken Vater sprechen darf, wie sie später der NZZ erzählt. Michael Kovrigs Stimme bricht, als er den Vater nach seiner Operation fragt. Der Vater hat sich gut erholt.

In monatlichen Briefen an seine Familie beschreibt Michael Kovrig die Haftbedingungen im Gefängnis im Süden Pekings, in welches er nach sechs Monaten Einzelhaft gebracht wurde. Nun teilt er eine Zelle, drei auf drei Meter, mit bis zu drei anderen Männern. Der soziale Kontakt tue ihm gut. Kovrig, der schon fliessend Mandarin spricht, lernt weiter Chinesisch. Er liest Tolstois «Krieg und Frieden» und schaut sich immer wieder dieselben Filme an. Nur wenige ausländische Produktionen passieren die chinesische Zensur. «Mary Poppins» hat er schon viermal gesehen.

Im Sommer 2020 werden Michael Kovrig und Michael Spavor formell der Spionage angeklagt. Die chinesischen Behörden werfen ihnen vor, Staatsgeheimnisse gestohlen zu haben. Maximalstrafe: der Tod.

Tut Kanadas Regierung genug, um die beiden Michaels davor zu bewahren?

Der wundersame Wandel des Justin Trudeau

Nein, sagen Kritiker. Clive Hamilton und Mareike Ohlberg schreiben in ihrem Buch «Lautlose Eroberung», dass Kanada nach der Verhaftung von Meng Wanzhou in eine Schockstarre verfallen sei: «Michael Kovrig und Michael Spavor hatten das grosse Pech, dass die Regierung ihres Landes von einem Mann geführt wurde, der nicht bereit war, China die Stirn zu bieten.»

Doch der kanadische Premierminister Justin Trudeau hat in den vergangenen zwei Jahren seit Beginn der Krise einen Wandel vollzogen. Während seine Regierung zu Beginn versuchte, zu verhandeln und China zu beschwichtigen, wurde Trudeaus Ton in jüngster Zeit schärfer. Er kritisierte Chinas Politik in Xinjiang und Hongkong, bezeichnete die Festnahme der beiden Michaels offen als Zwangsdiplomatie. Sein Verteidigungsminister Harjit Sajjan geht noch einen Schritt weiter und bezichtigt China der Geiseldiplomatie. Ottawa scheint zum Schluss gekommen zu sein, dass Nettigkeiten Kanada in dieser Krise nicht weiterbringen.

«Kanada hat hinter den Kulissen getan, was es konnte», sagt der Auslieferungsanwalt Don Bayne im Gespräch, der auch die Interessen von Michael Kovrigs Frau vertritt. Aber die realpolitischen Möglichkeiten Kanadas seien gering. Kanada könne gegen Grossmächte wie China und die USA alleine wenig ausrichten. Die beiden Michaels kämen erst frei, wenn der kanadische Richter die Auslieferung Mengs ablehne, sagt Bayne.

Siegessicher: Vor einer entscheidenden Verhandlung überrascht Meng Wanzhou die Öffentlichkeit mit einem Fotoshooting auf den Treppenstufen des Gerichts in Vancouver.

Siegessicher: Vor einer entscheidenden Verhandlung überrascht Meng Wanzhou die Öffentlichkeit mit einem Fotoshooting auf den Treppenstufen des Gerichts in Vancouver.

Die Pandemie hat Vancouver fest im Griff. Masken bedecken die Münder und Nasen, «social distancing» ist das Schlagwort der Stunde. Nicht für die Frau, die am Samstag, dem 23. Mai 2020, abends aus dem schwarzen SUV steigt, die Stufen zum obersten Gerichtshof von British Columbia hochgeht, sich zwischen Familie und Freunde drängt, den Daumen hochhält, grinst. Für ein zweites Bild umarmt Meng Wanzhou ihre Freundin, gemeinsam blicken die Frauen in den Bildschirm eines Handys, es muss von Huawei sein. Sitzt die Frisur? Der Fotograf geht in die Knie. Es blitzt.

An einem Punkt zieht Meng ihr schwarzes Designerkleid hoch, damit über den Jimmy-Choo-Stilettos der GPS-Tracker am Knöchel sichtbar wird. So erzählt es später der Reporter vom Fernsehsender CBC, Jason Proctor, der NZZ. Er beobachtet die Szene heimlich, jemand hat ihm im Vorfeld einen Tipp gegeben. Meng und ihre Freunde formen ein V mit dem Zeige- und Mittelfinger, lächeln ein letztes Mal für die Kamera, bevor sie zurück in den SUV huschen. In vier Tagen wird das Gericht darüber entscheiden, ob die Anklage der USA gegen Meng auch in Kanada strafbar ist. Es ist Mengs erste echte Chance auf Freiheit. Sie ist offensichtlich siegessicher.

Doch es kommt anders. Mengs Anwälte scheitern mit dem Argument, eine Verletzung der amerikanischen Sanktionen gegen Iran sei keine Straftat in Kanada. Es ist ein herber Rückschlag für Meng. Doch ihre Anwälte kämpfen weiter. Sie argumentieren, die USA missbrauchten das Verfahren. Meng hat die besten Anwälte Kanadas an ihrer Seite. Sie könnte schon im Frühjahr 2021 auf freiem Fuss sein, sagt der auf Auslieferungsverhandlungen spezialisierte Anwalt Bayne.

Doch selbst wenn Meng freigelassen würde, bedeute das nicht automatisch die Freilassung der zwei Michaels, sagt der Anwalt Bayne. Das wäre ein zu klares Eingeständnis, dass die beiden Kanadier nur festgenommen worden waren, um Meng freizupressen. Bayne vermutet daher, dass China einen Schauprozess inszenieren würde, um die zwei Michaels zu verurteilen. Und sie dann aus humanitären Gründen freilassen würde.

Kanada will sich nicht erpressen lassen, doch ein «Geheim-Deal» lässt hoffen

In Kanada sprechen sich unter der Führung von Kovrigs Frau hochrangige Politiker und Diplomaten für einen Gefangenenaustausch aus. Das chinesische Aussenministerium machte Ottawa Ende Juni ein unmissverständliches Angebot. Meng Wanzhou freizulassen, wäre «hilfreich, um das Problem der beiden kanadischen Bürger zu lösen», sagte ein Sprecher.

Die Regierung Trudeaus lehnte einen Gefangenenaustausch ab. «Wir können nicht zulassen, dass politischer Druck oder willkürliche Verhaftung von kanadischen Bürgern das Funktionieren unseres Rechtssystems beeinflusst», sagte Trudeau gegenüber den Medien. Beugt sich seine Regierung dem Druck, weiss China, dass Kanada erpressbar ist.

Michael Kovrigs Frau, Vina Nadjibulla, sucht derweil nach anderen Lösungen, um ihren Mann zu befreien. Die Wahl von Joe Biden zum Präsidenten der Vereinigten Staaten lässt sie neue Hoffnung schöpfen. Experten gehen davon aus, dass Biden den Entscheid der kanadischen Justiz akzeptieren werde, auch wenn diese Meng freilassen sollte.

Doch Meng könnte noch vor dem Amtsantritt Joe Bidens einen Deal abschliessen, der ihre Rückkehr nach China garantiert. Meng Wanzhous Anwälte verhandelten mit dem Justizministerium der USA, berichtet das «Wall Street Journal» am 4. Dezember 2020 und bezieht sich dabei auf anonyme Quellen. Einigen sich die beiden Parteien, darf Meng laut dem Bericht nach China zurückzukehren, wenn sie Teile der Anschuldigungen gegen sie anerkennt. Bisher hat Meng an ihrer Unschuld festgehalten. Sollte es dennoch zum Deal kommen, könnte das auch Michael Kovrig und Michael Spavor helfen.

Michael Kovrig hält sich fit in Haft, liest, lernt Chinesisch. Seit zwei Jahren hat er keine frische Luft mehr geatmet.

Michael Kovrig hält sich fit in Haft, liest, lernt Chinesisch. Seit zwei Jahren hat er keine frische Luft mehr geatmet.

Meng Wanzhou schreibt nach ihrem ersten Jahr im goldenen Käfig: «Mit dem Wintereinbruch kann ich beobachten, wie die dichten Wälder beginnen, die Hügel um mich herum in tiefes Karminrot zu verwandeln. Die Schönheit der Natur ist jedem klar, der hinsieht.»

Michael Kovrig würde diese Natur gerne mit eigenen Augen sehen. In seinen Briefen philosophiert er über die hohen Bäume im Wald. Doch Kovrig darf nicht nach draussen. Seit zwei Jahren hat er keine frische Luft mehr geatmet.

Weihnachten wird für Michael Kovrig wahrscheinlich ein Tag wie jeder andere seit seiner Verhaftung sein. Er wird um 6.30 Uhr geweckt werden. Er wird seine Matratze aufrollen, seine Besitztümer – eine Tasse und einen Teller – in die Ecke stellen und in seiner Zelle ein paar Runden drehen. 7000 bis 10 000 Schritte läuft er pro Tag. Danach wird er versuchen, so lange wie möglich in der Unterarmstütze zu verharren. Bis zu 20 Minuten schaffe er, schreibt er in den Briefen an seine Familie.

Nur das Abendessen wird sich an diesem Tag vielleicht von der tagtäglichen Gefängniskost unterscheiden. Vergangene Weihnachten gab es statt Reis mit Gemüse zwei frittierte Hähnchenschenkel der Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken.

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