Frage: Professor Justin Tse, in den vergangenen Wochen wurden in Hongkong zahlreiche Protestierende der Demokratiebewegung festgenommen. Am Rande der Kautionsverhandlungen trat auch Kardinal Zen auf, der ehemalige Bischof von Hongkong. Auf welcher Seite steht die katholische Kirche in Hongkongs aktuellem Kampf für Demokratie?

Justin Tse: Kardinal Zen ist bekannt als ein sehr offener Unterstützer der Demokratiebewegung und regelmäßig sehr aktiv bei den Protesten dabei. Generell unterstützten viele Mitglieder der katholischen Kirche die Demokratiebewegung von Anfang an. Vor jedem Protest finden ökumenische Gebete statt, die Kardinal Zen vor mehr als 15 Jahren initiierte. Mittlerweile sind diese Gebete vor Protesten zu einer Art Tradition geworden: Hongkonger Christinnen und Christen bitten dort Gott um seinen Segen für die Proteste oder beten zu Passagen aus der Bibel, in denen es um ihr Recht geht, für soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren.

Frage: Sehr junge Menschen tragen in Hongkong die Demokratiebewegung. Was bedeutet ihnen die Kirche heute?

Tse: Historisch gesehen ist die katholische Kirche, genau wie die protestantische, schon lange eine Art moralische Autorität in Hongkong. Katholische Schulen, Krankenhäuser und Wohlfahrtsorganisationen spielen eine wichtige Rolle in der moralischen Welt Hongkongs – wenn es darum geht, sich zu bilden, sich um andere zu kümmern oder sich an der Gesellschaft zu beteiligen. Viele junge Leute teilen diese Moralvorstellungen und einige haben sicher auch katholische Schulen besucht, selbst wenn sie nicht alle selber katholisch sind. Aber tatsächlich sind nur fünf Prozent der Hongkongerinnen und Hongkonger katholisch. Die Bedeutung der Kirche hat historische Gründe.

Frage: Welche?

Tse: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg lag Hongkong in Trümmern nach der Kolonialisierung durch Japan. Im Norden, in China, tobte ein Bürgerkrieg. Die Stadt war voller heimatloser Menschen, die Essen, eine Unterkunft und medizinische Versorgung brauchten. Diese Aufgabe haben die Kirchen übernommen, die dadurch an Einfluss und moralischer Autorität gewonnen haben.

Frage: Welche kulturelle Rolle spielt das Christentum generell in Hongkong?

Tse: Ich argumentiere in meiner Arbeit oft, dass es in Hongkong eine Art "säkulares Christentum" gibt, das sich durch die ganze Stadt zieht: Auch säkulare Sphären, wie die Öffentlichkeit rund um die Proteste, berufen sich oft auf christliche Diskurse – dafür müssen sie nicht einmal selber Christen sein.

Frage: Bischof Zen ist seit 2009 emeritiert. Aktuell wird das Bistum Hongkong übergangsweise von Kardinal John Tong Hon geleitet. Ist er ähnlich stark mit den Protestierenden verbunden?

Tse: Kardinal Tongs größte Sorge scheint die ideologische Spaltung zu sein, die die Proteste sowohl in der Gesellschaft als auch in Familien verursacht. Deswegen wird er oft als apolitisch kritisiert. Aktuell würde ich aber sagen, dass die moralische Autorität eher bei jemandem liegt, den viele als Zens inoffiziellen Nachfolger sehen. Sein Name ist Joseph Ha, er unterstützt als Weihbischof offiziell Kardinal Tong bei der Verwaltung der Diözese. Ha ist ein Franziskaner, der die Proteste sehr offen unterstützt und als Seelsorger und ökumenische Führungsfigur agiert. Er glaubt, dass die Demonstranten das Recht haben, für eine demokratische Gesellschaft zu demonstrieren, aber dass diese Gesellschaft friedlich sein muss.

Frage: Hören die Demonstranten auf ihn?

Tse: Die Protestbewegung ist dezentral und sie hat keine Anführer, denen Ha sagen könnte, dass sie mit der Gewalt aufhören sollen. Deswegen ist er in der Protestbewegung eine kontroverse Figur: Leute, die weiter eskalieren wollen, kritisieren ihn. Andere sind ihm dankbar, weil auch sie weitere Eskalationen vermeiden wollen. Die lautesten seiner Kritiker verweisen auf die Polizeigewalt gegen die Proteste und fragen: "Wie sollen wir uns dann gegen die Gewalt der Polizei verteidigen?" Die katholische Antwort darauf ist klar: Auch die Reaktion auf Gewalt muss friedlich sein.