Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

"Erinnert ihr euch daran, wie leicht euch wurde, wenn ihr von Festlandchina nach Hongkong gefahren seid – hier konntet ihr offen sprechen, offen publizieren, musstet nicht über eure Schulter sehen, eure Gesprächspartner brauchten keine Pseudonyme benutzen, und Interviews konntet ihr ganz offen mit einem sichtbaren Mikrofon führen?" Das schrieb die Journalistin Yuen Chan am 29. Juni auf Twitter. Nachdem die chinesische Regierung das Nationale Sicherheitsgesetz in Hongkong am 1. Juli in Kraft gesetzt hat, sind Trauer und Wut über das Ende des letzten Rests der Autonomie Hongkongs von Festlandchina groß.

Chans Tweet brachte eine furchtbare Konsequenz des Ereignisses auf den Punkt: 1,4 Milliarden Chinesen haben die letzte Insel der Freiheit auf ihrem Territorium verloren, eine Stadt der Toleranz und Tapferkeit, die mehr als ein Jahrhundert lang ein Tor zwischen Ost und West war. Was von der Strahlkraft Hongkongs noch verblieben war, ist nun durch die autoritäre Macht Pekings ausgelöscht worden.

Es ist an der Zeit für eine Eloge und zugleich eine Grabrede auf das alte Hongkong. Nicht auf die Kolonisatoren oder die Superreichen der Stadt. Sondern auf die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Hongkongs, egal welche ethnische oder nationale Herkunft sie besitzen mögen. Sie haben eine unter den Bedingungen einer einstigen britischen Kronkolonie und seit 1997 autonomen Sonderverwaltungsregion Chinas bestmögliche Gesellschaften geschaffen, die nun zertrümmert wird. Das Schicksal Hongkongs ist ein mahnendes Beispiel: Es könnte auch das Schicksal all jener Demokratien sein, die nicht rechtzeitig alle Kräfte mobilisieren und eine Verteidigungslinie gegen das rasche Vordringen der Macht der Volksrepublik China errichten.

"Genau an dieser Stelle ist mein Vater gefallen"

Ein Nachruf auf Hongkong sollte mit einer Geschichte beginnen, die sich 1987 in Shenzhen ereignet hat, der Nachbarstadt Hongkongs in der Provinz Guangdong. Der damalige Lokalreporter Chen Bing'an besuchte dort die Eröffnungszeremonie eines neuen, von Investoren aus Hongkong erbauten Hotels. Es begann alles im gewöhnlichen feierlichen Rahmen: Grüße des Gastgebers, Feuerwerk, Blumenübergabe. Dann aber trat der Hotelmanager aus Hongkong auf die Bühne, um seine Eröffnungsrede zu halten. Zunächst las er aus dem vorbereiteten Manuskript vor, doch dann brach er plötzlich in Tränen aus.

Die geladenen Gäste waren verblüfft. Niemand wusste, was los war, bis der Manager schluchzend Folgendes sagte: "Verehrte Gäste, bitte vergeben Sie mir meine Tränen … Genau an dieser Stelle", und dabei stampfte er auf den roten Teppich unter seinen Füßen, "genau hier, wo ich jetzt stehe, ist vor zwanzig Jahren mein Vater gefallen …" Der Mann wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Ich war noch klein. Er hat mich auf seinem Rücken getragen. Fast hatten wir den Fluss schon erreicht, da traf ihn eine Kugel …" Aus dem Schluchzen wurde Wehklagen. "Ich habe seine Erwartungen erfüllt: Er wollte, dass ich ein erfolgreicher Mann werde. Und darum habe ich das Hotel an dieser Stelle eröffnet."

Für den Journalisten Chen Bing'an war diese Szene der Beginn einer viele Jahre währenden Recherche, im Zuge derer er auf beiden Seiten der Grenze zwischen dem Festland und Hongkong Menschen mit ähnlichen Geschichten begegnete. Es waren erfolgreiche Geschäftsleute, Bankiers, gewöhnliche Dorfbewohner, Beamte, Parteibürokraten, Soldaten. Durch die Zensur der chinesischen Regierung waren ihre Fluchtgeschichten im Verborgenen geblieben. Im Jahr 2009 veröffentlichte Chen Bing'an das bislang einzige unzensierte Buch zu diesem Thema: The Great Escape to Hong Kong. Seine Nachforschungen haben ergeben, dass zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren insgesamt bis zu zwei Millionen Menschen aus dem kommunistischen China von Shenzhen aus nach Hongkong geflohen sind, zumeist schwammen sie durch die Bucht von Shenzhen oder über den Sham Chun River, der das Festland von Hongkong trennt. (Zum Vergleich: Nur knapp 40.000 DDR-Bürgern und -Bürgerinnen gelang zwischen dem Mauerbau 1961 und dem Mauerfall 1989 die Flucht über die innerdeutsche Grenze nach Westdeutschland.)

Viele Chinesen und Chinesinnen wurden bei ihren Fluchtversuchen erschossen oder verhaftet und in Arbeitslager gesteckt; manche wurden offenbar später hingerichtet. Von denen, die zunächst scheiterten und es nicht bis nach Hongkong schafften, aber glücklicherweise überlebten, versuchten es manche so lange immer wieder, bis ihnen die Flucht gelang. Besonders stark war der Zustrom nach der Ausrufung der Volksrepublik im Jahr 1949, später während der großen Hungersnot Anfang der Sechzigerjahre in China und gegen Ende des Jahrzehnts, als die Kulturrevolution das Land erschütterte. Diese tapferen Geflüchteten gehörten zu den vielen Menschen, die das heutige Hongkong erschaffen haben. Dass sie dabei auch zu den Ausgebeuteten (und zu den Ausbeutern) der in jener Zeit explosionsartig vonstatten gegangenen Industrialisierung Hongkongs gehörten, ist aber ebenso wahr.