Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

Eine Schönheit, als wäre sie gerade aus einem klassischen chinesischen Gemälde spaziert: zarte Gesichtszüge, schlanke Figur, elegant in traditioneller Mode gekleidet, ihre Augen meiden die Kamera. Anders aber als die steifen klassischen Damen, die ein Windstoß umwerfen konnte, sucht sie zu Pferde in den Bergen nach exotischen Kräutern, fällt Riesenbambus, um mit bloßen Händen Pavillons und Möbel zu bauen. Sie versorgt Tiere, pflegt Gärten, produziert Tinte aus Asche und färbt Kleider mit Blumen… Und sie ist außerordentlich reich.

Li Ziqi ist eine dreißigjährige Frau aus Sichuan, kommt aber vom Dorf. Sie ist eine der umschwärmtesten chinesischen Influencerinnen. 14 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten folgen ihren ätherisch-nachdenklichen Videos auf YouTube, das sind rund zwei Millionen mehr, als CNN dort abonniert haben. "Ich möchte den jungen Menschen nur zeigen, wo unsere Nahrung herkommt, und die Welt zu einem besseren Ort machen", sagt Li Ziqi. Das ist nicht einfach Geschwätz im Stil des Silicon Valley: Millionen von Fans kaufen tatsächlich Lis Lebensmittelprodukte im Netz, um von den idyllischen Träumen zu kosten, die Li für das wettbewerbsorientierte, stressige Leben im modernen China kreiert. Beim Geschmack der Salzeier aus ihrem Shop sehen die Käuferinnen und Käufer vermutlich Entlein vor sich, wie sie auf hellen, grünen Feldern Schnecken verspeisen.

Influencerinnen und Influencer sind zu einer beachtlichen Macht geworden innerhalb der chinesischen Ökonomie, insbesondere im E-Commerce-Markt. In dem werden in China jährlich rund 500 Milliarden Yuan (63,5 Milliarden Euro) umgesetzt, der Markt wuchs zuletzt mit Steigerungsraten von 50 bis 60 Prozent pro Jahr. Aus allen Ecken des Landes versenden Influencerinnen und Influencer ihr Leben, ihre Arbeit, gar ihren Schlaf, sie performen – und sie verkaufen Produkte. Ihren erheblichen Beitrag zum chinesischen Wirtschaftswachstum erkennen mittlerweile auch führende Politiker an. Einige lokale Regierungen schreiben neuerdings spezielle Preise aus und schaffen günstige Standortbedingungen, damit ihre Kommunen zur "Influencer-Stadt" werden. Die erfolgreichste chinesische Influencerin, Viya, ist ständiger Gast bei Lokalpolitikern. Tritt sie, gekleidet in neuester Mode, in den üblicherweise riesigen Konferenzsälen des kommunistischen Stils in Erscheinung, bildet ihr Dasein einen erheblichen Kontrast zu allen anderen Anwesenden.

Die Lock-Ökonomie

Die Anfänge der gegenwärtigen chinesischen Influencer-Ökonomie und ihr heutiger Fokus auf live gestreamte Inhalte gehen bis ins Jahr 2005 zurück. Die Onlinekaraokeplattform 9158.com spielte dabei eine wesentliche Rolle, mit ihr begann das, was man eine Lock-Ökonomie nennen könnte: Die Werbung für die Seite lockte die Nutzerinnen und Nutzer damals mit dem Versprechen auf "kostenlose Onlinechats mit Zehntausenden Schönheiten". Das war zwar kein respektables Geschäftsmodell, aber ein sehr einträgliches: Männer besuchten diese Onlineräume, nicht um zu singen, sondern um spärlich bekleideten Mädchen beim Flirten und Tanzen zuzusehen und sie mit virtuellen Geschenken zu überschütten. Es entstanden immer weitere Videoplattformen nach dem Modell, regelmäßigen Strafen wegen "vulgärer Darstellungen" zum Trotz. Manche wurden nach staatlichen Interventionen auch dichtgemacht, weil Sex- und Drogenpartys stattgefunden haben sollen.

Als ein anderes vielversprechendes Livestream-Business stellten sich bald Onlinespiele heraus, die sich insbesondere seit 2012 weit verbreitet haben. In dem Jahr gelangte das Spiel League of Legends nach China und brachte Douyu.com und Huya.com hervor, zwei erfolgreiche Gamingplattformen. Die Lock-Ökonomie funktioniert hier etwas anders: Niedliche Mädchen in Mangakostümen präsentieren die Spiele und zocken mit den mutmaßlich einsamen Nerds, wenn die bereit sind, dafür den doppelten Preis zu bezahlen. Der Name für diese Mädchen ist "Spielbegleiterin" (伴游). Anfangs hat ihre Präsenz die misogynen Tendenzen der männlich geprägten Gamerkultur noch verstärkt, aber nach und nach kamen auch tatsächliche Spielerinnen dazu. Inzwischen sind Frauen als Konkurrenz und nicht mehr als "Begleiterinnen" der Männer ausgesprochen präsent. Ende 2019 wurde eine junge Chinesin, Li Xiaomeng, die erste weibliche Hearthstone-Weltmeisterin.

Von 2013 bis 2016 machte die Livestream-Ökonomie in China einen großen Sprung in eine noch viel umfassendere soziale Sphäre, vor allem, weil damals mobile Zugänge in 4G-Qualität für die meisten Menschen in China erschwinglich wurden. Im Jahr 2016 entstand buchstäblich jeden Tag eine neue Plattform, und zwar auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie setzten auf umfassendere Modelle als die Lock-Ökonomie. Man sah nun Olympiasiegerinnen, E-Sport-Gamer, Film- und Fernsehstars, Schönheitsköniginnen der Universitäten auf diesen Plattformen. Livestreaming wurde in rasantem Tempo zu einem populären Zeitvertreib. Immer mehr junge Leute teilen seitdem ihre Leben mit der Netzöffentlichkeit, viele von ihnen wollen offenbar auf diesem Wege reich und berühmt werden. Und als die großen Unternehmen der chinesischen Techindustrie (Tencent, Baidu, Alibaba) sich diesem Markt zuzuwenden begannen, erreichte das Livestreaming auch die älteren Generationen und die abgelegenen Dörfer.