Heribert Prantl: „Ich hoffe, dass die Gesellschaft aufwacht“

Der frühere Politik-Chef der Süddeutschen Zeitung und Jurist sagt: Das Grundgesetz steht nicht unter Pandemie-Vorbehalt. 

Heribert Prantl<br><br>
Heribert Prantl

Jürgen Bauer

Berliner Zeitung: Herr Prantl, Sie haben neulich in einer Talk-Show gesagt, dass Sie in den 33 Jahren Ihrer Tätigkeit als Journalist noch nie so viel Angst gehabt hätten. Wovor haben Sie Angst?

Heribert Prantl: Ich habe nicht Angst um mich. Ich habe Angst um unsere Grundrechte. Ich bin besorgt. Die Grundrechte sind das Schönste und Beste und Wichtigste, was wir in unserem Staat haben. Ich habe das Gefühl, dass sie in der Pandemie kleingemacht oder bisweilen beiseitegeschoben werden. Ich habe die Sorge, dass wir die Grundrechte opfern, um so vermeintlich der Pandemie Herr zu werden.

Das Wesen der Grundrechte ist jedoch, dass sie gerade in einer Krise gelten müssen. Deswegen heißen sie Grundrechte. Sie sind die Leuchttürme, die in der Demokratie leuchten. Es ist fatal zu glauben, man könne sie ja eine Zeit lang geringer leuchten lassen. Diese Haltung erscheint mir aber dominant, wenn ich die aktuelle Politik betrachte. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass wir so intensive Beschränkungen unserer Freiheit erleben werden. Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts sagte in diesen Tagen, er habe sich nie vorstellen können, dass derart intensive Freiheitsbeschränkungen von der zweiten Gewalt, der Exekutive, beschlossen werden. Er hat darauf hingewiesen, dass Entscheidungen über Grundrechte eine breite gesellschaftliche und demokratische Basis brauchen.

Aktuell ist die Politik dominiert von Naturwissenschaftlern und Virologen. Das geht nicht. Die Regierung muss Verfassungsrechtler, Pädagogen, Soziologen, Ökonomen und Kinderärzte anhören. Die Grundrechte sind kein Larifari. In einem demokratischen Rechtsstaat steckt die Kraft der Hoffnung in den Grundrechten – auch und gerade in Krisenzeiten. Weil die Corona-Politik die Grundrechte zu wenig achtet, ist die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht so groß, wie sie sein könnte.

Ganz neu ist die Einschränkung der Grundrechte nicht. Wir haben das etwa in der Terror-Bekämpfung gesehen.

Die Einschränkung der Grundrechte ist nicht vom Himmel gefallen. Wir haben seit der RAF- und der Terror-Zeit Einschränkungen der Grundrechte. Auch damals wurde gesagt, es handelt sich nur um vorübergehende Maßnahmen. Doch diese Gesetze gelten fast komplett bis heute.

Welche Einschränkungen sind auf die Anti-Terror-Gesetze zurückzuführen?

Der Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnis, also der Artikel 10 Grundgesetz wurde durchlöchert, Lauschangriffe eingeführt, der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Wanzen verletzt, das V-Mann-Unwesen wurde ausgebaut, der Kronzeuge eingeführt. Nach 9/11 hat sich dieser Prozess fortgesetzt. Man hat mit „Zeitgesetzen“ gearbeitet, hat also gesagt: Die Einschränkungen gelten nur für eine bestimmte Zeit. Und dann wurden die Einschränkungen verlängert und verlängert und verlängert. Das befürchte ich auch jetzt: Dass die Einschränkungen zur Normalität werden. Die Einschränkungen können auch als Blaupause verwendet werden, für das nächste Virus, für den nächsten Katastrophenfall. Doch das Grundgesetz steht nicht unter Pandemievorbehalt.

Vielfach wissen die Leute gar nicht mehr, was ein Grundrecht ist. Welche Grundrechte wurden denn in der Pandemie eingeschränkt?

Es gibt eher harmlose Grundrechtsbeschränkungen wie den Mund-Nasen-Schutz. Der ist zwar unbequem, aber kann und muss toleriert werden. Problematisch sind Kontaktverbote, bei denen uns der Staat plötzlich sagt, welche und wie viele Menschen wir wo treffen dürfen. Wir haben Ausgangssperren. Wir haben Einschränkungen der Gewerbefreiheit, die existenzgefährdend sind, für Gaststätten, Künstler, Friseure. Mir wird manchmal gesagt: Prantl, haben Sie sich nicht so, dann können Sie halt am Wochenende einmal nicht in die Alpen fahren. Doch darum geht es nicht.

Es gibt das Grundrecht, mit anderen Menschen Kontakt zu pflegen. Das ist die Basis für Demokratie. Es gibt das Grundrecht, sich frei zu bewegen. Es gibt das Grundrecht, sich seinen Lebensunterhalt frei verdienen zu können. Das ist nicht ein Recht, möglichst viel Geld zu verdienen. Es ist das Recht, sich selbst um seine Existenz sorgen zu können. Die Maßnahmen jetzt werden die Existenzen von hunderttausenden Menschen zerstören. Wenn man, wie Beamte, ein gesichertes Einkommen hat, tut man sich leicht zu sagen: Das muss man jetzt eben einmal durchhalten. Ich wünsche mir, dass die, die über Maßnahmen entscheiden, an diejenigen denken, die ihre Jobs verlieren können.

Welches Grundrecht ist durch das Kontaktverbot eingeschränkt?

Die Freiheit der Person, die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Kommunikation. Die Demokratie lebt von der Überwindung der sozialen Distanz. Jetzt verordnen wir die soziale Distanz. Dies geschieht mit einer Rigorosität, die ich für gefährlich halte. Was wir brauchen, ist nicht noch mehr Härte beim Lockdown, sondern mehr Differenzierung. Das Recht auf Leben ist ein Hauptgrundrecht – natürlich. Aber die Mittel, um dieses Recht zu sichern, müssen geeignet, angemessen und erforderlich sein. Es geht um Maß und Verhältnismäßigkeit.

Jetzt erleben wir, wie Politiker mit harten Maßnahmen punkten wollen, wie ein Politiker den anderen überbieten will, mit einem noch härteren Lockdown, noch härteren Maßnahmen. Die Grundrechte verpflichten: Sie verpflichten, nicht generalisierend und pauschalisierend vorzugehen, sondern differenziert. Demokratie heißt, nicht alles über einen Kamm zu scheren.

Das Kontaktverbot hat massive Folgen in den Altersheimen, und das seit Monaten. Welches Grundrecht wird hier verletzt?

Es ist ein Grundrecht, dass alte Menschen begleitet und geleitet werden. Es ist ein Grundrecht, dass sie nicht isoliert, allein und verlassen sterben müssen. Es gehört zur Menschenwürde, dass ihnen in den letzten Tagen und Stunden ein Angehöriger die Hand hält, wenn sie das wünschen. Das gehört zum Kern der Menschenwürde. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist der erste und wichtigste Satz des Grundgesetzes. Gegen diesen Satz ist zumal in  der ersten Phase des Lockdowns brutal verstoßen worden. Wir haben in unseren Alten- und Pflegeheimen furchtbare Situationen geschaffen. Hätte meine Mutter noch gelebt – sie war in einem Pflegeheim – ich hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, vom Bundesverfassungsgericht bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um sie trotz Corona sehen und begleiten zu dürfen. Es gibt ein Grundrecht, nicht in Einsamkeit sterben zu müssen.

Eine andere Gruppe, die besonders betroffen sind, sind Kinder und Jugendliche.

Kinder haben keine starke Lobby, die für sie kämpft. Es gibt ein Recht auf Bildung. Die Schließung von Schulen und Kindergärten schränkt die Bildungschancen ein. Die schnellen und lange dauernden Schulschließungen verschärfen die soziale Ungleichheit maßlos. Am meisten werden die Kinder aus ärmeren, bildungsfernen Milieus getroffen. Sie haben nicht die Möglichkeit, im Homeoffice gut betreut unterrichtet zu werden.

Mit den Schließungen verschärft sich die Bildungsungleichheit auf drastische Weise. Schulen müssen so schnell als möglich wieder geöffnet werden, natürlich mit all den nötigen Vorsichtsmaßnahmen. Schule, also Unterricht, muss in die Schule. Wir haben zwar eine Schulpflicht, aber, wie sich in der Corona-Krise zeigt, kein Schulrecht. Genau das brauchen wir aber – wir brauchen ein Grundrecht auf Schule.

Sieht man nicht gerade bei den Schulen, dass wir auf eine Art Mehrklassengesellschaft zusteuern? Wer es sich leisten kann, richtet es sich und seinen Kindern im Lockdown ein. Das gilt auch global. Reiche Länder haben mehr Möglichkeiten. Steuern wir auf einen globalen Feudalismus zu?

Ich fürchte, ja. Corona hat die Konflikte, die wir schon haben, an die Oberfläche gebracht und verschärft. Das ist die Härte, vielleicht auch das Verdienst des Virus – sofern das Managermantra gilt, dass man in jeder Krise die Chance sehen soll. Die Frage nach dem Stellenwert des Rechts auf Leben – sie war schon durch das Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer drängend. Die Fragen nach der Notwendigkeit massiver staatlicher Eingriffe und nach der Rolle des Parlaments dabei – sie waren schon in der Bankenkrise drängend und sie werden es erst recht in der Klimakrise sein. Die Frage nach der Sammlung und der Nutzung von Daten – sie war schon nach den Enthüllungen von Edward Snowden drängend. So kann man die Fragen weiter aufzählen, und es ist mühsam, furchtbar mühsam, Antworten zu finden.

Aber eines ist durch Corona auch deutlich geworden: Welche Antworten auch immer gesucht und gefunden werden, das Suchen und Finden darf kein autoritäres werden, es muss ein demokratisches Suchen und Finden bleiben. Wenn jedwede Maßnahme als alternativlos erklärt wird, ist das undemokratisch. Wir müssen den mühsamen Weg gehen, die Vielzahl von Antworten zu hören und abzuwägen. Nicht nur die Bekämpfung des Virus ist das Ziel, auch der Weg dahin ist das Ziel, nämlich dabei die Gesundheit der Demokratie und den gesellschaftlichen Ausgleich zu bewahren.

Wo ist die Demokratie in Gefahr?

Wir haben plötzlich Gremien, die es im Grundgesetz nicht gibt. Diese entscheiden über die Grundrechte. Es gibt in der deutschen Rechtsordnung kein „Konzil“ der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin. Es kann nicht sein, dass Merkel, Laschet und Söder hinter verschlossenen Türen entscheiden und dann sagen: Hier geht es jetzt lang. Das ist nicht die Demokratie, wie sie im Grundgesetz vorgesehen ist. Das zweite, was mir Sorgen macht, ist eine Art Corona-Fundamentalismus. Die Auseinandersetzung ist sehr giftig geworden. Das Virusgift hat auch den gesellschaftlichen Diskurs erfasst. Das betrifft die Befürworter der Maßnahmen genauso wie die Gegner. Es wird verbissen gestritten, nicht diskutiert. Doch die Demokratie lebt von den Zwischentönen. In der Demokratie ist nichts alternativlos.

Welche Rolle sollten die Parlamente spielen? Ist hier nicht auch ein gewisser Konformitätsdruck, weil ja alle im Sog des Fundamentalismus agieren, und es keine inhaltliche Vielfalt gibt?

Das ist furchtbar. Vor dem Lockdown des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens hat es den politischen Selbstlockdown der Parlamente gegeben. Es war eine Selbst-Kastration. Die Parlamente sollten eigentlich der Ort der Diskussion sein, der politischen Debatte und am Ende der demokratischen Entscheidung. Die Parlamente vertreten den Souverän. Doch in der Krise spielen sie nur eine Nebenrolle. Fragen über Leben und Tod werden auf dem Weg der Verordnung, also durch die Exekutive, entschieden. Das kann nicht und darf nicht sein.

Diese Fragen, und zwar genau diese Fragen, müssen im Parlament diskutiert werden. Weil das nicht geschehen ist, konnte eine untergesetzliche Parallelrechtsordnung entstehen. Das hatte und hat ungute Auswirkungen. Zu diesen unguten Auswirkungen gehören auch die zum Teil völlig irrationalen Proteste gegen die staatliche Pandemiebekämpfung. Das Parlament ist mit schuld an den Querdenkern. Und noch zum Impfen: Es besteht der Verdacht, dass es ein großes Organisationsversagen der Regierung bei der Impfstoff-Beschaffung gegeben hat. Die EU-Kaufverträge müssen offengelegt werden. Ein Untersuchungsausschuss muss Transparenz schaffen. Transparenz ist wesentlich für eine Demokratie.

Und wenn es nicht gelingt?

Der Bundestag hat in dieser historischen Corona-Zeit bisher nicht angemessen gehandelt. Die Abgeordneten haben den Löffel an Merkel und Söder abgegeben. Der Bundestag hat es geduldet, dass per Verordnung Grundrechte auf- und zugedreht wurden – gerade so, als hätte ein Grundrecht Armaturen wie ein Wasserhahn. Das Parlament muss endlich die ihm gemäße Rolle finden und einnehmen.

Und wenn es das nicht schafft?

Ich hoffe auf die Wegweisung von der dritten Gewalt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in der Finanzkrise deutlich gemacht, dass ohne Parlament keine zentralen Entscheidungen getroffen werden dürfen. Es muss mehr eine öffentliche Diskussion stattfinden, die wird von parlamentarischen Beratungen befördert. Ich hoffe, dass die Gesellschaft aufwacht. Auch wir, die Journalistinnen und Journalisten, müssen lauter rufen. Die Presse hat die Freiheit, die Grundrechte zu verteidigen. Die Pressefreiheit ist das einzige Grundrecht, das einer Berufsgruppe zugestanden wird. Deshalb haben die Medien hier eine besondere Verantwortung.

Nehmen sie die ausreichend wahr, oder sind nicht auch die Medien einem gewissen Konformitätsdruck unterworfen?

Die Medien haben zu Beginn der Krise als Frühwarnsystem gut funktioniert. Dann sind sie zu sehr zu einem Dauerwarnsystem geworden. Wir müssen die Maßnahmen und die Alternativen diskutieren. Wir sind nicht dafür da, die Alternativlosigkeit nachzubeten. Es darf keinen autoritären Weg geben, wie über Lösungen entschieden wird.

Aktuell haben es allerdings Kritiker der Regierungspolitik schwer. Ich kann mich nicht erinnern, dass einem bei Recherchen so viele Leute – Ärzte, Juristen, Unternehmer – sagen: Das oder das können Sie bitte gerne schreiben, aber bloß nicht unter meinem Namen.

Eine Demokratie kann nicht hinter vorgehaltener Hand leben. Wir müssen offen darüber diskutieren, was der richtige Weg in und aus der Krise ist. Ich beobachte allerdings mit Sorge, dass schon derjenige, der die Grundrechte verteidigt, sich wappnen muss. Es darf nicht sein, dass ein Grundrechtsverteidiger schon fast im Verdacht steht, ein Corona-Leugner zu sein. Corona-Leugner stehen außerhalb des Diskurses.

Die Grundrechte sind doch eigentlich das Herzstück der freiheitlichen Demokratien in Westeuropa. Wenn wir sie aufgeben – nähern wir und dann nicht autoritären Staaten an, in denen diese Grundrechte nicht uneingeschränkt gelten? Russland und die Türkei haben Einschränkungen sehr schnell implementiert. China hat sich damit gebrüstet, wie schnell sie eine Millionen-Metropole in den Lockdown schicken konnten …

Ich stelle mit Befremden fest, dass jetzt viele mit sehnsüchtigen Augen nach Fernost blicken, wo die Pandemie mit Big-Brother-Methoden bekämpft wird. Doch es geht im Kampf gegen die Pandemie nicht nur um die Gesundheit der Bürger. Es geht auch um die Gesundheit unserer Demokratie. Corona hat vieles ins Wanken gebracht, von dem wir uns nie vorstellen konnten, dass es eines Tages wanken würde. Die Menschen waren bereit, viel schneller Einschränkungen hinzunehmen als bei der Terrorgefahr, weil sie sich ganz persönlich bedroht fühlen.

Aber es ist eine Illusion, Krankheit und Schmerzen und Viren völlig entkommen zu können, sie völlig verschwinden lassen zu können. Es geht auch darum, sie ins Leben zu integrieren, ins persönliche und in das gesellschaftliche. Zu ihrer Bewältigung ist mehr notwendig, als sie mit Medikamenten und Impfungen zu bekämpfen. Das Ringen um Heilung und Überleben ist dringend geboten; die Suche nach den richtigen Wegen dahin ist unabdingbar. Das Privatisieren und Sparen im Pflege- und Gesundheitswesen war eine Verirrung und gehört zur erwähnten Politik der angeblichen Alternativlosigkeit. Die Corona-Wellen haben diesen Dreck sichtbar gemacht. Aber notwendig im Sinne von Not wendend ist auch ein gewisses Maß an Akzeptanz, dass das Leben sterblich ist, und die Kraft der Hoffnung – also ein gesunder Optimismus, der Bedrohung zum Trotz.

Diese Gesundheit des Lebens für die Zeit in und nach Corona wünsche ich uns: Dass die Menschen wieder miteinander reden können, dass die angstbesetzte Polarität der Reaktionen auf Corona einem zuhörenden und diskutierenden Miteinander Platz macht.

Das Gespräch führte Michael Maier.

Heribert Prantl wurde 1953 in Nittenau, Oberpfalz, geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft, der Geschichte und Philosophie war er Richter und Staatsanwalt und wechselte   in den Journalismus zur Süddeutschen Zeitung. Er ist Honorarprofessor an der Universität Bielefeld.

Prantls neues Buch: Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne. In seinem im März bei C.H. Beck erscheinenden Buch erzählt Prantl vom Leben im Ausnahmezustand und den Lehren daraus.