Wahlrechtsreform: Das Volk wird sich über diese Entscheidung noch sehr wundern

In halsbrecherischem Tempo hat die Ampel ins Herz der Demokratie gegriffen. Die Linke dürfte das vernichten, die CSU ist in Gefahr – und die AfD applaudiert.

Schrumpfkur auf die Schnelle: Die Ampel will den Bundestag unbedingt verkleinern.
Schrumpfkur auf die Schnelle: Die Ampel will den Bundestag unbedingt verkleinern.dpa

Die Ampel hat den Gordischen Knoten einer Wahlrechtsreform am Freitag mit Wucht durchgeschlagen. Kein Zetern und kein Klagen der Opposition konnte sie erweichen. Nach dem neuen Wahlrecht, das bereits bei der nächsten Bundestagswahl in zweieinhalb Jahren gelten wird, ist eine Entscheidung in einem gut 15 Jahre währenden Streit erzwungen worden.

Die Zahl der Bundestagsmandate wird auf 630 festgezurrt, der Gewinn eines Direktmandats führt nicht mehr automatisch zum Einzug in den Bundestag. Und die Grundmandatsklausel, also die Regelung, dass eine Partei auch dann ins Parlament einzieht, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt – egal ob sie über die Fünfprozenthürde kommt – ist abgeschafft. Zack.

Mit diesem Wahlrecht sind Linke und CSU existenzbedroht

Doch was hier geschehen ist, dürfte den meisten Menschen erst langsam klar werden. Es wurde grundlegend in den wichtigsten Teil der Demokratie eingegriffen: Welche Stimme wie viel zählt. Parteien könnten nun in zahllosen Wahlkreisen gewinnen und doch nicht ins Parlament einziehen.

Nach den neuen Regeln säße bei dem Ergebnis der letzten Wahl die Linke nicht mehr im Bundestag, die CSU in Bayern wäre nur 0,21 Punkte an einem Scheitern vorbeigeschrammt. Und trotz dieser grundstürzenden Veränderungen hat es keine große gesellschaftliche Debatte darüber gegeben, wie der Souverän seine Stimmen gezählt und seine Vertreter bestimmt sehen will. Aber wann, wenn nicht in diesem Falle, müssten wir lang und breit darüber sprechen?

Dass am Ende alles ganz schnell ging, lag daran, dass die Ampel ihren endgültigen Entwurf erst in der vergangenen Woche vorgestellt hatte und am Freitag direkt zur Abstimmung brachte. Selbst führende Abgeordnete der Regierungskoalition konnten bei diesem Tempo die Konsequenzen ihres Tuns offenbar nicht völlig umreißen.

Selbst Ampel-Politiker wissen nicht genau bescheid

Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, der Union vorgeschlagen hatte, doch einfach bei der nächsten Wahl gemeinsame Listen von CD und CSU anzumelden, um ein Ausscheiden der CSU aus dem Bundestag bei Unterschreiten der Fünfprozenthürde zu umgehen. Das aber wäre, wie Haßelmann kurz darauf erfahren musste, verfassungswidrig.

Im Zentrum der Überlegungen von SPD, Grünen und FDP stand nach eigenem Bekunden und Dafürhalten weiter Teile der Beobachter die Verkleinerung des Bundestags. Derzeit sitzen dort 736 Abgeordnete, 598 sollten es laut Grundgesetz eigentlich sein. Er ist damit das zweitgrößte Parlament der Welt – nach dem chinesischen Volkskongress. In einer Zeit, in der dem Volk unglaublich viel abverlangt werde, so Konstantin Kuhle von der FDP, würden die Volksvertreter mit dem Schritt zeigen: „Wir können uns selbst reformieren.“

So schlecht er für die CSU auch aussieht, sie ist selbst schuld

Sicher, damit sendet die Koalition das Signal, dass auch sie zum Verzicht bereit ist. Über 100 Abgeordnete werden dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören. Aber wahr ist eben auch, dass es sich um ein hochkomplexes Thema handelt, das nicht in Eile hätte abgehandelt werden dürfen, nur um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Nur weil die Ampel zwischen Ukrainekrieg, Energiekrise und Inflation außer Atem ist, kann sie nicht zwischen geostrategischen Großentscheidungen mit letzter Luft das Wahlrecht umpflügen.

Heute ist die Union Opfer, doch daran hat sie selbst Schuld. Seit bekannt ist, dass durch das veränderte Parteiengefüge, in dem die alten Volksparteien zwar immer weniger Zweitstimmen, aber weiterhin die meisten Direktmandate gewinnen, ein Aufwuchs des Bundestags durch Direkt- und Ausgleichsmandate fortschreitet, blockiert die CSU eine Reform. Zwei CDU-Bundestagspräsidenten, darunter die Eminenz Wolfang Schäuble, scheiterten mit einer Reform an der bayerischen Schwester.

Wenn die Linke mit der CDU und die AfD mit der Ampel einig ist

Wie komplex das Wahlsystem ist, weil es historischen und regionalen Besonderheiten der Bundesrepublik und ihren Vorgängern Rechnung trägt, wurde in der Debatte im Bundestag erst in Ansätzen deutlich. Und welch unerhörte Allianzen das Ampel-Basta schmiedet, zeigt auch: Linke klatschten für die CDU, die AfD applaudierte der Ampel.

Die Änderung des Wahlrechts wäre zwingend der Anlass gewesen, den Bürgern zu verdeutlichen, was die Erststimme bedeutet, was die Zweitstimme bewirkt – und mit dem Souverän in einen Dialog darüber zu treten, wie er seine Stimmen gewichtet wissen will. Gordische Knoten lassen sich mit einem Hieb zerschlagen. Aber man sollte sich vorher gut überlegen, wie man mit den übriggebliebenen Enden umgeht.