Benjamin Abelow: Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte

Neben dem militärischen Krieg in der Ukraine herrscht auch ein Informationskrieg. Die Vorgeschichte des russischen Einmarsches in die Ukraine wird von den verantwortlichen deutschen Politikern und den Mainstream-Medien systematisch ausgeblendet und Putin als der allein Schuldige angeprangert. Umso wichtiger ist es, Fakten dazu zu veröffentlichen, die erst ein ganzes Bild ergeben, aufgrund dessen allein ein fundiertes Urteil gefällt werden kann. Wir bringen daher einen weiteren wichtigen Artikel über die verschwiegenen Hintergründe, der zuerst im Februar-Heft der Schweizer Zeitschrift „Der Europäer“ erschienen ist, mit freundlicher Zustimmung von Autor und Redaktion. (hl)

Von Dr. Gerald Brei, Zürich

Am 24. Februar 2023 jährt sich ein weltpolitisch einschneidendes Ereignis, das seitdem die Schlagzeilen beherrscht und die hauptsächliche Ursache aller möglichen Krisen sein soll: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, im Westen als verabscheuenswerter Angriffskrieg verteufelt, von Russland hingegen als spezielle Militäroperation zum Schutz der russisch-sprachigen Menschen im Osten der Ukraine gerechtfertigt. Der US-amerikanische Historiker und Mediziner Benjamin Abelow, ausgebildet an den Elite-Universitäten Pennsylvania und Yale in den USA, hat wegen des steigenden Risikos eines Atomkriegs ein schmales Buch verfasst mit dem Titel: «Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte». Die Weltwoche hat es in höchst verdienstvoller Weise als Sonderdruck ungekürzt veröffentlicht.1

Die sachlichen und ausgewogenen Überlegungen sind ein wohltuendes Gegengewicht zu den überwiegend negativen und einseitigen Darstellungen in den Massenmedien, für die ausschließlich der russische Präsident Putin die Schuld am Krieg trägt. Wer der Ansicht ist, die russische Sicht bewusst ignorieren zu dürfen (und etwa die Zensur von Russia Today für richtig hält, weil das nur unglaubwürdige Propaganda sei, trotz des alten Grundsatzes, man möge auch die andere Seite hören: «Et audiatur altera pars»), lese zumindest diesen Sonderdruck, um eine breitere und objektivere Urteilsgrundlage für das Geschehen in der Ukraine zu haben. Der Inhalt gehört zum Besten, was zur Vorgeschichte und den Hintergründen des tragischen Geschehens im Osten Europas zu finden ist.

Das Besondere an Abelows Darstellung ist, dass er die Tatsachen für sich selber sprechen lässt und seine Beurteilung auf eine vorsichtige und sorgfältige Abwägung stützt. Er vertritt die Auffassung, dass das westliche Narrativ falsch ist. In wesentlichen Punkten sei es das Gegenteil der Wahrheit. Die eigentliche Ursache des Krieges finde sich nicht in einem ungezügelten Expansionismus Putins oder in paranoiden Wahnvorstellungen der Militärstrategen im Kreml, sondern in einer dreißigjährigen Geschichte westlicher Provokationen gegen Russland, die mit der Auflösung der Sowjetunion begannen und bis zum Beginn des Krieges andauerten. Diese Provokationen hätten Russland in eine  untragbare Situation gebracht, für die nach Ansicht Putins und seines Militärstabs Krieg die einzige praktikable Lösung darstellte. In seiner Argumentation legt Abelow besonderes Augenmerk auf die USA und kritisiert sie sehr scharf, da sie bei der Gestaltung der westlichen Politik die entscheidende Rolle gespielt hätten. Seine Kritik am Westen ziele nicht darauf ab, Moskaus Invasion zu rechtfertigen oder die russische Führung von Schuld freizusprechen. Er sei kein Fürsprecher von Putin. Dieser hätte seiner Ansicht nach Alternativen zum Krieg gehabt. Aber er möchte ihn verstehen, indem er rational zu beurteilen versuche, welche kausale Abfolge ihn dazu bewogen habe, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Nachstehend seien einige wesentliche Aspekte seiner Analyse mitgeteilt.

Westliche Provokationen

Oft werde behauptet, dass die Nato-Osterweiterung zu den Spannungen beigetragen habe. Diese Behauptung sei zwar richtig, aber eine unvollständige Sichtweise. Wenn man sich nur auf die Nato konzentriere, entgehe einem das ganze Ausmaß und der Ernst der Zwangslage, in welche der Westen Russland gebracht habe. Im einleitenden Überblick fasst Abelow die wichtigsten westlichen Provokationen zusammen, die er im weiteren Verlauf des Buches näher erläutert und kommentiert. In den letzten drei Jahrzehnten hätten die USA allein oder manchmal gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten Folgendes getan:

–  Sie haben die Nato mehr als 1500 Kilometer nach Osten erweitert und sie unter Missachtung von Zusicherungen, welche Moskau zuvor gegeben wurden, bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt.
–  Sie haben den ABM-Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen einseitig gekündigt und antiballistische Trägersysteme in den neuen Nato-Staaten aufgestellt. Diese können auch offensive Nuklearwaffen, wie zum Beispiel mit Nuklearsprengköpfen bestückte Tomahawk-Marschflugkörper, aufnehmen und auf Russland abfeuern.
–  Sie haben dazu beigetragen, den Weg für einen bewaffneten, rechtsextremen Staatsstreich in der Ukraine zu bereiten und ihn möglicherweise sogar direkt angezettelt. Durch diesen Coup wurde eine demokratisch gewählte prorussische Regierung durch eine nicht gewählte prowestliche Regierung ersetzt.
–  Sie haben zahlreiche Nato-Manöver nahe der russischen Grenze durchgeführt. Dazu gehörten zum Beispiel Übungen mit scharfen Raketen, welche Angriffe auf Luftabwehrsysteme in Russland simulieren sollten.
–  Sie haben ohne zwingende strategische Notwendigkeit und unter Missachtung der Bedrohung, welche ein solcher Schritt für Russland bedeuten würde, der Ukraine die Aufnahme in die Nato versprochen. Die Nato weigerte sich später, diese Politik aufzugeben, selbst wenn dadurch ein Krieg hätte verhindert werden können.
–  Sie haben sich einseitig aus dem Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag zurückgezogen, was Russland noch anfälliger für einen Erstschlag der USA macht.
–  Sie haben im Rahmen bilateraler Abkommen das ukrainische Militär mit Waffen ausgerüstet und ausgebildet und dafür regelmäßig gemeinsame Manöver in der Ukraine abgehalten. Dies hatte zum Ziel, eine militärische Zusammenarbeit auf Nato-Ebene (die sogenannte Interoperabilität) herzustellen, und zwar schon vor einer formellen Aufnahme der Ukraine in das Militärbündnis.
–  Sie haben die ukrainische Führung zu einer kompromisslosen Haltung gegenüber Russland veranlasst und dadurch einerseits die Bedrohung für Russland weiter verschärft und  andererseits die Ukraine der Gefahr einer militärischen Reaktion Russlands ausgesetzt.

Nato-Osterweiterung entgegen westlichen Zusicherungen gegenüber Russland

Laut einer Analyse des National Security Archive an der George Washington University, wo entsprechende freigegebene Dokumente aufbewahrt würden, haben westliche Staatschefs während des deutschen Wiedervereinigungs-Prozesses im Jahr 1990 und bis ins Jahr 1991 hinein Gorbatschow und anderen sowjetischen Funktionären eine Fülle von Zusicherungen hinsichtlich der sowjetischen Sicherheit gemacht. Diese Zusicherungen betrafen nicht nur die Frage der Nato-Erweiterung auf das Gebiet der ehemaligen DDR, wie manchmal behauptet werde, sondern auch die Ausweitung der Nato auf die osteuropäischen Länder. Dennoch hätte die Nato innerhalb weniger Jahre begonnen, sich in Richtung der russischen Grenze auszudehnen.

Auch wenn diese Zusicherungen nicht in formelle Verträge gegossen worden seien, wären spätere sowjetische und russische Beschwerden, hinsichtlich der Nato-Erweiterung in die Irre geführt worden zu sein, nicht einfach nur russische Propaganda, sondern stützten sich vielmehr auf zeitgleiche schriftliche Memoranden auf höchster Ebene der westlichen Regierungen. Abelow will durch die Schilderung dieses Vorfalls nicht behaupten, dass die westlichen Zusicherungen rechtsverbindlich gewesen seien oder deren Nichteinhaltung den EinmarschRusslands in die Ukraine vollständig erkläre. Er möchte lediglich darauf hinweisen, dass der Westen versuchte, Moskau bewusst zu täuschen, und dass durch diese Situation auf russischer Seite das Gefühl entstand, man könne der Nato und insbesondere den USA nicht trauen.

Der Maidan-Putsch

Ende 2013 und Anfang 2014 fanden auf dem Kiewer Maidan («Unabhängigkeitsplatz») regierungsfeindliche Proteste statt. Diese von den USA unterstützten Proteste wurden von gewalttätigen Provokateuren untergraben. Die Gewalt kulminierte schließlich in einem Staatsstreich.
Bei diesem übernahmen bewaffnete, rechtsextreme ukrainische Ultranationalisten Regierungsgebäude und zwangen den demokratisch gewählten prorussischen Präsidenten zur Flucht ins Ausland.

Die USA spielten bei diesen Ereignissen laut Abelow eine Rolle, auch wenn das volle Ausmaß ihrer Beteiligung und die Frage, ob sie die Gewalt direkt geschürt hätten, möglicherweise nie vollständig öffentlich geklärt werde. Fest stehe jedenfalls, dass die USA seit 1991 fünf Milliarden US-Dollar in von ihnen ausgewählte pro-demokratische Organisationen in der Ukraine gesteckt hätten, und dass sie schon einen Monat vor dem Staatsstreich hinter den Kulissen nach einem Nachfolger für den amtierenden Präsidenten gesucht hätten. Letzteres wurde bekannt, als ein Telefongespräch zwischen
der stellvertretenden US-Außenministerin Victoria Nuland und dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, abgehört oder geleakt und anschließend online veröffentlicht wurde.

Im Laufe des Gesprächs verwendete Nuland einen derben Ausdruck in Bezug auf die EU, was zu Spannungen zwischen Washington und europäischen Hauptstädten führte. Egal, welche Rolle die USA dabei gespielt hätten, sei Russland zu Recht davon ausgegangen, dass die Amerikaner tief verstrickt waren – auf jeden Fall dabei, die Grundlage für den Staatsstreich vorzubereiten, und möglicherweise auch dabei, Gewalt zu schüren. Russland annektierte die Krim als Gegenantwort darauf – und zum Teil aus der begründeten Sorge, dass die nach dem Staatsstreich eingesetzte Regierung beziehungsweise ihre westlichen Partner Russland den Zugang zu seinem wichtigen eisfreien Flottenstützpunkt in Sewastopol auf der Krim verwehren könnten, über dessen Nutzung Russland zuvor verhandelt hatte.

Zuspitzung der Provokationen 2021

Schon im Jahr 2017 hatte die Regierung von Präsident Donald J. Trump begonnen, tödliche Waffen an die Ukraine zu verkaufen. Das stellte eine Abkehr von der Politik der Jahre 2014 bis 2017 dar, in denen nur nichttödliche Produkte verkauft wurden (zum Beispiel Schutzwesten und verschiedene technische Ausrüstungen). Andere Nato-Länder schlossen sich an und lieferten Waffen an die Ukraine, bildeten ihre Streitkräfte aus und erlaubten ihr die Teilnahme an gemeinsamen Luft- und Seemanövern.

Im Juli 2021 veranstalteten die Ukraine und die USA gemeinsam ein großes Marinemanöver in der Schwarzmeerregion, an dem Seestreitkräfte aus 32 Ländern teilnahmen. Während sie diese militärischen Aktivitäten aktiv fortsetzte, erklärte die Nato weiterhin, dass die Ukraine der Nato beitreten werde. Bei ihrem Gipfel im Juni 2021 in Brüssel bekräftigte die Nato den 2008 auf dem Gipfel in Bukarest gefassten Entschluss, dass die Ukraine ein Mitglied des Bündnisses werde. Zwei Monate später, im August 2021, unterzeichneten die Verteidigungsminister der USA und der Ukraine einen strategischen Verteidigungsrahmen zwischen ihren beiden Ländern. Dieser Rahmen überführte die Erklärung der Nato in eine bilaterale (amerikanisch-ukrainische) politische Entscheidung, die militärischen Verhältnisse vor Ort unverzüglich zu ändern, unabhängig davon, ob die Ukraine Mitglied der Nato sei oder nicht. Neun Wochen danach unterzeichneten die Außenminister der beiden Staaten ein ähnliches Dokument, die Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine.

Im Zeitraum von 2017 bis 2021 gab es daher nahe der russischen Grenze ein Zusammentreffen zweier Arten von militärischen Aktivitäten. Die eine Art bezog sich auf die bilateralen militärischen Beziehungen und beinhaltete umfangreiche Lieferungen tödlicher Waffen sowie gemeinsame
Ausbildungs- und Interoperabilitätsübungen der Ukraine und des Westens, welche in der Ukraine stattfanden. Zudem wurden offensivfähige Raketenabschussrampen in Rumänien in Betrieb genommen – Polen sollte bald folgen. Die andere betraf militärische Aktivitäten der Nato selbst und umfasste Abschussübungen mit scharfen Raketen. Diese sollten Angriffe auf Ziele in Russland simulieren. Dass die simulierten Angriffe von einem an Russland angrenzenden Nato-Land ausgingen, das entgegen früheren Zusicherungen gegenüber Moskau in die Nato aufgenommen worden war, machte die Sache noch schlimmer. All das geschah vor dem Hintergrund einer erneuten Zusicherung, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen werden würde.

Russland empfand dieses Zusammentreffen militärischer Aktivitäten als direkte Bedrohung seiner Sicherheit. Abelow zitiert dazu Professor John J. Mearsheimer (University of Chicago):
„Wenig überraschend empfand Moskau diese Entwicklung als untragbar und begann, seine Armee an der ukrainischen Grenze zu mobilisieren, um Washington gegenüber seine Entschlossenheit zu verdeutlichen. Das zeigte jedoch keine Wirkung, und die Biden-Regierung näherte sich der Ukraine weiter an. Dies brachte Russland dazu, im Dezember [2021] eine diplomatische Pattsituation herbeizuführen. Oder wie es der russische Außenminister Sergei Lawrow formulierte: ´Wir haben unseren Siedepunkt erreicht.`“ 2

Im Dezember 2021 wies zudem der russische Botschafter Anatoly Antonov in den USA in der Zeitschrift Foreign Policy darauf hin, dass die Nato jährlich etwa vierzig große Übungen in der Region um Russland durchführe. Er warnte: „Die Situation ist äußerst gefährlich. Niemand sollte an unserer Entschlossenheit zweifeln, unsere Sicherheit zu verteidigen.“ Er bekräftigte damit erneut, was dreizehn Jahre zuvor William Burns in seinem «Nyet means Nyet»-Telegramm deutlich gemacht hatte. Im Jahr 2008 hatte der heutige CIA-Direktor William J. Burns, damals US-Botschafter in Russland, ein Telegramm nach Washington geschickt, in dem er ein Treffen mit dem russischen Außenminister beschrieb. Er merkte darin an, dass der Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens für
Russland eine rote Linie darstelle, die nicht überschritten werden dürfe. Diese Einschätzung schlug sich auch in der Überschrift des Telegramms nieder: «Nyet means Nyet [Nein heißt Nein]: Russlands rote Linien bei der Nato-Erweiterung.» Antonov wies eindringlich darauf hin:
„Alles hat seine Grenzen. Wenn unsere Partner [die USA und die Nato-Länder] weiterhin militärisch-strategische Tatsachen schaffen, welche die Existenz unseres Landes gefährden, sehen wir uns dazu gezwungen, bei ihnen ähnliche Gefährdungen herzustellen. Wir befinden uns jetzt an einem Punkt, an dem kein Rückzug mehr möglich ist. Die militärische Erschließung der Ukraine durch Nato-Mitgliedstaaten ist eine existenzielle Bedrohung für Russland.“ 3

Mearsheimer beschreibt, was danach geschah: „Russland verlangte eine schriftliche Garantie, dass die Ukraine niemals Teil der Nato werden wird, und dass das Bündnis die militärischen Ressourcen, die es seit 1997 in Osteuropa stationiert hat, wieder abzieht. Die anschließenden Verhandlungen scheiterten, als [US-Außenminister] Blinken klarstellte: ‹Es sind keine Änderungen eingetreten. Es wird keine Änderungen geben.› Einen Monat später befahl Putin die Invasion der Ukraine, um die seiner Meinung nach von der Nato ausgehende Bedrohung zu beseitigen.“ 2

Aus umgekehrter Perspektive betrachtet

Betrachte man die von ihm beschriebene dreißigjährige Geschichte, muss man sich laut Abelow Folgendes fragen: Wie würde die Führung der USA in der umgekehrten Situation reagieren – wenn zum Beispiel Russland oder China in der Nähe des amerikanischen Territoriums ähnliche Schritte durchführen würden? Wie würde Washington reagieren, wenn Russland ein Militärbündnis mit Kanada eingeht und dann knapp mehr als hundert Kilometer von der US-Grenze entfernt Raketenbasen errichtet? Was würde geschehen, wenn Russland diese Raketenbasen für Übungen mit scharfen Waffen nutzt, um die Zerstörung von militärischen Zielen in Amerika zu proben? Würde die US-Regierung die mündlichen Zusicherungen Russlands akzeptieren, dass seine Absichten friedlich sind? Natürlich nicht.

Wahrscheinlich würde die Reaktion folgendermaßen aussehen: Die Militärstrategen und Politiker der USA würden sich mit dem offensiven Potenzial der Waffen und Trainingsübungen befassen. Sie würden den erklärten Absichten keine Beachtung schenken und sich ernsthaft bedroht fühlen. Sie könnten die Übungen mit scharfen Waffen als Zeichen eines bevorstehenden russischen Angriffs deuten. Die USA würden den Abzug der Raketen verlangen. Wenn diese Forderung nicht umgehend erfüllt wird, könnten die USA mit einem Präventivschlag auf die Raketenbasen reagieren. Das könnte wiederum einen allgemeinen Krieg und womöglich eine Eskalation bis hin zu einem thermonuklearen Schlagabtausch auslösen. Die US-Führung und sicherlich auch die meisten US-Bürger würden dann Russland die moralische Schuld für Amerikas Präventivschlag zuschreiben und diesen als Selbstverteidigung bezeichnen.

Abelow zieht das Fazit, dass es letztlich nicht ausschlaggebend sei, ob 1990/1991 Russland Zusicherungen gemacht wurden. Es sei auch nicht ausschlaggebend, ob die militärische Bedrohung durch bilaterale oder multilaterale Aktionen zwischen der Ukraine und den westlichen Staaten von der Nato ausgegangen sei oder von außerhalb der Nato. Drohungen seien Drohungen, unabhängig von den Worten oder Taten, die diesen vorausgehen, und unabhängig vom administrativen Weg, auf dem sie zustande kämen. Wichtig sei vielmehr die Antwort auf diese Frage: Wie ist die Situation vor Ort, und wie können eine Nation, deren Interesse ihr eigener Weiterbestand ist, und eine umsichtige Führung, die diesen Weiterbestand sicherstellen soll, auf eine solche Bedrohung reagieren? Das gelte es zu verstehen, wenn man die Frage der westlichen Aktionen und Provokationen betrachtet.

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen

In Kapitel 4 beschreibt Abelow, wie sich der amerikanische Ausstieg aus dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme von 1987 auf die Sicherheit Russlands auswirkte. Kapitel 5 erläutert, wie Außenpolitik-Experten der USA öffentlich davor warnten, dass die Nato-Erweiterung zu einer Katastrophe führen würde. Kapitel 6 beschreibt, wie die Verantwortlichen der gescheiterten Erweiterungspolitik der Nato ihre Fehler nun wiederholen. Kapitel 7 erläutert, wie allzu pessimistische Einschätzungen der Absichten potenzieller Gegner oftmals zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden.

Die Geschichte von einem bösen, irrationalen, von Natur aus expansionistischen Russland mit einem paranoiden Führer an seiner Spitze, dem die tugendhaften USA und Europa gegenüberstehen, sei verwirrt und fehlgeleitet. Sie sei mit mehreren in die gleiche Richtung gehenden Ereignissen der letzten dreißig Jahre unvereinbar – Ereignisse, deren Bedeutung und Sinn sich eigentlich von selbst hätten erschließen müssen. Tatsächlich könne man das vorherrschende westliche Narrativ selbst als eine Art Paranoia betrachten. Die Provokationen der USA und ihrer Verbündeten gegen Russland seien derart schwerwiegende politische Fehler, dass die US-Führung im umgekehrten Fall schon längst einen Atomkrieg mit Russland riskiert hätte. Dass die US-Führung nun das Gegenteil tue, sei eine gefährliche Missachtung der Realität.

Die großen Medienkonzerne tragen nach Ansicht von Abelow dafür auch Verantwortung. Anstatt sich zu bemühen, die Ereignisse für ihr Publikum angemessen zu kontextualisieren, hätten sie einfach das bevorzugte Narrativ der Regierung propagiert. Aus welchen Beweggründen auch immer hätten die
Mainstream-Medien ein Propagandaprogramm eingeführt, mit dem sie die Öffentlichkeit fehlinformieren. Russland könne das nur als Affront gegen den nationalen Charakter seines Volkes empfinden. Online-Anbieter von Informationen machten nichts anderes. Wie der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist und Anwalt für das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, Glenn Greenwald, aufgezeigt habe, findet auf vielen Ebenen der Gesellschaft sowohl in den USA als auch in Europa eine massive Zensur abweichender Meinungen statt.4

Das Hauptziel seines Buches ist laut Abelow, ein falsches Narrativ zu korrigieren, und das aus einem sehr praktischen Grund: weil falsche Narrative zu schlechten Ergebnissen führten. Narrative schlügen sich unweigerlich in Verhaltensweisen nieder; einerseits beschrieben sie eine Situation, andererseits
gestalteten sie diese auch. Indem sie als Modelle der Realität fungierten, dienten Narrative als Handlungsanleitungen. Durch die Dynamik von Aktion und Reaktion, Vorstoß und Rückstoß könnten sie dann die Ergebnisse bewirken, die laut ihrer Darstellung angeblich bereits existieren. Auf diese Weise könne ein Narrativ, welches die Absichten eines potenziellen Gegners übertrieben pessimistisch einschätze – was er ein «Narrativ des Misstrauens» nenne –, genau die Bedrohungen verstärken, die es zu entschärfen vorgibt. Wie im Ersten Weltkrieg befürchte jede Seite von der anderen das Schlimmste und versuche sich durch eine militärische Strategie, die notwendigerweise auch offensives Potenzial hat – ein zweischneidiges strategisches Schwert, das politische Analysten als «Sicherheitsdilemma» bezeichnen –, unverwundbar zu machen.

Hauptverantwortung für den Krieg bei den USA

Das abschließende Kapitel 8 enthält eine kontrafaktische Geschichte unter der Prämisse, was hätte sein können, wenn der Westen anders gehandelt hätte. Die Beurteilung der relativen Verantwortung Moskaus, Washingtons und der verschiedenen europäischen Regierungen wird nach Abelow unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie man bestimmte historische Ereignisse, das Vorgehen der einzelnen Beteiligten sowie die relative Wichtigkeit, die man der inneren und äußeren Kausalität beimisst, gegeneinander abwäge. Dennoch wage er zu behaupten, dass, wenn man alles berücksichtigt, die Hauptverantwortung beim Westen und insbesondere bei den USA liegt. Er kenne keinen völlig  zufriedenstellenden Weg, um diese Behauptung zu begründen. Es gebe keine validierte Methodik der Zumessung von Schuld auf die verschiedenen Akteure, die alle zumindest eine gewisse Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit haben. Er glaube jedoch, dass wir Einblicke gewinnen können, indem wir eine kontrafaktische Geschichte mit folgender Fragestellung entwerfen: Wo stünden wir nun, wenn die USA anders gehandelt hätten?

Hätten die USA nicht auf die Erweiterung der Nato bis an die Grenze Russlands gedrängt; hätten sie nicht nuklearfähige Raketenabschussvorrichtungen in Rumänien stationiert und in Polen und vielleicht auch anderswo geplant; hätten sie 2014 nicht zum Sturz der demokratisch gewählten ukrainischen Regierung beigetragen; hätten sie nicht den ABM-Vertrag und dann den Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen abgeschafft und anschließend die russischen Versuche, ein bilaterales Moratorium für die Stationierung auszuhandeln, ignoriert; hätten sie keine Übungen mit scharfen Raketen in Estland durchgeführt, um das Anvisieren von Zielen innerhalb Russlands zu üben; hätten sie kein umfangreiches Militärmanöver mit 32 Nationen in der Nähe des russischen Territoriums organisiert; hätten sie die Streitkräfte der USA nicht mit denen der Ukraine verknüpft; und so weiter und so fort – hätten die USA und ihre Nato-Verbündeten diese Dinge nicht getan, wäre der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich nicht ausgebrochen. Das ist nach Abelows Meinung eine vernünftige Behauptung.

Selbst aus einer eindimensionalen amerikanischen Perspektive sei der gesamte westliche Plan ein gefährlicher Bluff gewesen, der aus kaum nachvollziehbaren Gründen durchgeführt wurde. Die Ukraine stelle beim besten Willen kein wesentliches Sicherheitsinteresse der USA dar. Tatsächlich spiele die Ukraine kaum eine Rolle. Aus amerikanischer Sicht – und er sage das, ohne das ukrainische Volk beleidigen zu wollen – sei die Ukraine irrelevant. Die Ukraine sei für die Bürger der USA nicht wichtiger als irgendeines der fünfzig anderen Länder, welche die meisten Amerikaner aus völlig verständlichen Gründen erst nach langem Suchen auf einer Landkarte finden würden. Und wenn sich die Führer der USA und der Nato diese offensichtliche Tatsache eingestanden hätten, wäre all das nicht passiert.

Russland teile hingegen mit der Ukraine eine beinahe 2000 Kilometer lange Grenze und eine Geschichte, in deren Verlauf der Westen dreimal auf dem Landweg einmarschiert sei. Die letzte westliche Invasion während des Zweiten Weltkriegs hätte den Tod von etwa 13 Prozent der gesamten russischen Bevölkerung zur Folge gehabt. Deshalb sei die Ukraine für Russland von allerhöchstem Interesse. Dass sich Russland durch eine vom Westen bewaffnete, ausgebildete und militärisch integrierte Ukraine in seiner Existenz bedroht fühlt, hätte Washington von Anfang an klar sein müssen. Welcher vernünftig denkende Mensch konnte glauben, dass die Präsenz eines westlichen Waffenarsenals an Russlands Grenze keine starke Reaktion hervorrufen würde? Welcher vernünftige Mensch konnte davon ausgehen, dass die Stationierung eines solchen Arsenals die Sicherheit der USA erhöhen würde? Und falls das nicht klar gewesen sein sollte, hätten spätestens 2008 sämtliche Unklarheiten darüber beseitigt sein sollen. Damals telegrafierte der US-Botschafter in Russland, William Burns, der jetzt Bidens CIA leitet, nach Washington, dass die Ukraine für Russland die roteste aller roten Linien sei. Man müsse kein Genie sein, um die Gründe dafür zu verstehen.
Dennoch scheine diese offensichtliche Realität für viele im Außen- und im Verteidigungsministerium der USA, in der Nato und in den Medien sowie für den amtierenden US-Präsidenten undurchschaubar zu sein.

Was bedeute das also für die Bürger der USA und ihre europäischen Verbündeten? Offen gesagt, so Abelow, sind sie – wir – in einer sehr misslichen Lage. Es sei eine Lage, die nicht nur äußerst gefährlich ist und die ganze Welt dem Risiko eines Atomkriegs aussetzt: Diese Situation hätte nur durch ein Ausmaß an Dummheit und Blindheit der US-Regierung und ein Maß an Ehrfurcht und Feigheit der europäischen Politiker erreicht werden können, das beinahe unvorstellbar sei.

Abelows Fazit am Ende lautet: Die Politiker in Washington und die europäischen Regierungen – mitsamt den gefügigen, feigen Medien, die deren Unsinn kritiklos nachplapperten – stünden jetzt bis zur Hüfte im Sumpf. Es sei schwer vorstellbar, dass diejenigen, die dumm genug waren, diesen Sumpf zu betreten, nun die Klugheit aufbrächten, sich selbst zu befreien, bevor sie vollends versinken und uns alle mitreißen.

—————————————-

Anmerkungen:

1   Benjamin Abelow: «Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte. Die Rolle der USA und der NATO im Ukraine-Konflikt», Spezial-Ausgabe DIE WELTWOCHE vom 27. Oktober 2022, kostenl. PDF (https://weltwoche.ch/wp-content/uploads/wewo2022_43_UKRA-1.pdf)
2   «John Mearsheimer on why the West is principally responsible for the Ukrainian crisis», The Economist, 11. März 2022
3   Anatoly Antonov: «An Existential Threat to Europe’s Security Architecture? What happens next in Ukraine depends on the West’s readiness for dialogue, says Russia’s ambassador to the United States», in: Foreign Policy vom 30. Dezember 2021 (https://foreignpolicy.com/2021/12/30/russia-ukraine-nato-threat-security/)
4   Glenn Greenwald: Western Dissent from US/NATO Policy on Ukraine is Small, Yet the Censorship Campaign is Extreme, https://greenwald.substack.com/p/western-dissent-from-usnato-policy